Ich habe seithero der Sach vielmal nachgedacht, und befunden, dass Aristoteles lib. 3. de Anima wohl geschlossen, als er die Seele eines Menschen einer leeren ohnbeschriebenen Tafel verglichen, darauf man allerhand notieren könne, und dass solches alles darum von dem höchsten Schöpfer geschehen sei, damit solche glatte Tafel durch fleißige Impression und Übung gezeichnet, und zur Vollkommenheit und Perfection gebracht werde; dahero denn auch sein Commentator Averroes lib. 2. de Anima (da der Philosophus sagt, der Intellectus sei alls potentia, werde aber nichts in actum gebracht, als durch die scientiam, das ist, es sei des Menschen Verstand allerdings fähig, könne aber nichts ohne fleißige Übung hineingebracht werden) diesen klaren Ausschlag gibt: nämlich, es sei diese scientia oder Übung die Perfection der Seelen, welche für sich selbst überall nichts an sich habe; solches bestätigt Cicero lib. 2. Tuscul. quaest., welcher die Seel des Menschen ohne Lehr, Wissenschaft und Übung einem solchen Feld vergleicht, das zwar von Natur fruchtbar sei, aber wenn man es nicht baue und besame gleichwohl keine Frucht bringe.
Solches alles erwies ich mit meinem eigenen Exempel, denn dass ich alles so bald gefaßt, was mir der fromme Einsiedel vorgehalten, ist daher kommen, weil er die geschlichte Tafel meiner Seelen ganz leer, und ohn einzige zuvor hinein gedruckten Bildnisse gefunden, so etwas anders hineinzubringen hätt hindern mögen; gleichwohl aber ist die pure Einfalt gegen andere Menschen zu rechnen noch immerzu bei mir verblieben, dahero der Einsiedel (weil weder er noch ich meinen rechten Namen gewusst) mich nur Simplicium genennet.
Mithin lernete ich auch beten, und als er meinem steifen Vorsatz, bei ihm zu bleiben, ein Genügen zu tun entschlossen, baueten wir für mich eine Hütten gleich der seinigen, von Holz, Reisern und Erden, fast formiert wie die Musketierer im Feld ihre Zelte, oder besser zu sagen, die Bauten an teils Orten ihre Rübenlöcher haben, zwar so nieder, dass ich kaum aufrecht darin sitzen konnte, mein Bett war von dürrem Laub und Gras, und ebenso groß als die Hütte selbst, so dass ich nit weiß, ob ich dergleichen Wohnung oder Höhlen eine bedeckte Lagerstatt oder eine Hütte nennen soll.
Das 10. Kapitel: Wasgestalten er schreiben und lesen im wilden Wald gelernet
Als ich das erstemal den Einsiedel in der Bibel lesen sah, konnte ich mir nicht einbilden, mit wem er doch ein solch heimlich und meinem Bedünken nach sehr ernstlich Gespräch haben müßte; ich sah wohl die Bewegung seiner Lippen, hingegen aber niemand, der mit ihm redet', und ob ich zwar nichts vom Lesen und Schreiben gewusst, so merkte ich doch an seinen Augen, dass ers mit etwas in selbigem Buch zu tun hatte: Ich gab Achtung auf das Buch, und nachdem er solches beigelegt, machte ich mich dahinter, schlugs auf, und bekam im ersten Griff das erste Kapitel des Hiobs, und die davorstehende Figur, so ein feiner Holzschnitt und schön illuminiert war, in die Augen; ich fragte dieselbigen Bilder seltsame Sachen, weil mir aber keine Antwort widerfahren wollte, wurde ich ungeduldig, und sagte eben, als der Einsiedel hinter mich schlich: »Ihr kleinen Hudler, habt ihr denn keine Mäuler mehr? habt ihr nicht allererst mit meinem Vater (denn also musste ich den Einsiedel nennen) lang genug schwätzen können? ich sehe wohl, dass ihr auch dem armen Knan seine Schaf heimtreibt, und das Haus angezündet habt, halt, halt, ich will dies Feuer noch wohl löschen«, damit stund ich auf Wasser zu holen, weil mich die Not vorhanden zu sein bedünkte. »Wohin Simplici?« sagt' der Einsiedel, den ich hinter mir nicht wusste. »Ei Vater«, sagte ich, »da sind auch Krieger, die haben Schaf, und wollens wegtreiben, sie habens dem armen Mann genommen, mit dem du erst geredet hast, so brennet sein Haus auch schon lichterloh, und wenn ich nicht bald lösche, so wirds verbrennen«; mit diesen Worten zeigte ich ihm mit dem Finger, was ich sah: »Bleib nur«, sagte der Einsiedel, »es ist noch keine Gefahr vorhanden.« Ich antwortete, meiner Höflichkeit nach: »Bist du denn blind, wehre du, dass sie die Schaf nicht forttreiben, so will ich Wasser holen.« »Ei«, sagte der Einsiedel, »diese Bilder leben nicht, sie sind nur gemacht, uns vorlängst geschehene Dinge vor Augen zu stellen«; ich antwortet: »Du hast ja erst mit ihnen geredt, warum wollten sie dann nicht leben?«
Der Einsiedel musste wider seinen Willen und Gewohnheit lachen, und sagte: »Liebes Kind, diese Bilder können nicht reden, was aber ihr Tun und Wesen sei, kann ich aus diesen schwarzen Linien sehen, welches man lesen nennet, und wenn ich dergestalt lese, so hältst du dafür, ich rede mit den Bildern, so aber nichts ist.« Ich antwortet: »Wenn ich ein Mensch bin wie du, so müßte ich auch an den schwarzen Zeilen können sehen, was du kannst, wie soll ich mich in dein Gespräch richten? Lieber Vater, berichte mich doch eigentlich, wie ich die Sach verstehen soll?« Darauf sagte er: »Nun wohlan mein Sohn, ich will dich lehren, dass du so wohl als ich mit diesen Bildern wirst reden können, allein wird es Zeit brauchen, in welcher ich Geduld, und du Fleiß anzulegen.« Demnach schrieb er mir ein Alphabet auf birkene Rinden, nach dem Druck formiert, und als ich die Buchstaben kennete, lernete ich buchstabieren, folgends lesen, und endlich besser schreiben, als es der Einsiedel selber konnte, weil ich alles dem Druck nachmalet.
Das 11. Kapitel: Redet von Essenspeis, Hausrat und andern notwendigen Sachen, die man in diesem zeitlichen Leben haben muss
Zwei Jahr ungefähr, nämlich bis der Einsiedel gestorben, und etwas länger als ein halbes Jahr nach dessen Tod, bin ich in diesem Wald verblieben; derohalben siehet mich für gut an, dem kuriosen Leser, der auch oft das Geringste wissen will, unser Tun, Handel und Wandel, und wie wir unser Leben durchgebracht, zu erzählen.
Unsere Speis war allerhand Gartengewächs, Rüben, Kraut, Bohnen, Erbsen und dergleichen, wir verschmäheten auch keine Buchen, wilden Äpfel, Birn, Kirschen, ja die Eicheln machte uns der Hunger oft angenehm; das Brot, oder besser zu sagen, unsere Kuchen backten wir in heißer Aschen aus zerstoßenem welschen Korn, im Winter fingen wir Vögel mit Sprinken und Stricken, im Frühling und Sommer aber bescherte uns Gott Junge aus den Nestern, wir behalfen uns oft mit Schnecken und Fröschen, so war uns auch mit Reusen und Anglen das Fischen nicht zuwider, indem ohnweit von unserer Wohnung ein fisch- und krebsreicher Bach hinfloß, welches alles unser grob Gemüs hinunter convoyieren musste; wir hatten auf eine Zeit ein junges wildes Schweinlein aufgefangen, welches wir in einen Pferch versperret, mit Eicheln und Buchen auferzogen, gemästet und endlich verzehret, weil mein Einsiedel wusste, dass solches keine Sünde sein könnte, wenn man genießet, was Gott dem ganzen menschlichen Geschlecht zu solchem End erschaffen; Salz brauchten wir wenig, und von Gewürz gar nichts, denn wir durften die Lust zum Trunk nicht erwecken, weil wir keinen Keller hatten, die Notdurft an Salz gab uns ein Pfarrer, der ohngefähr drei Meil Wegs von uns wohnete, von welchem ich noch viel zu sagen habe.
Unsern Hausrat betreffend, dessen war genug vorhanden, denn wir hatten eine Schaufel, eine Haue, eine Axt, ein Beil, und einen eisernen Hafen zum Kochen, welches zwar nicht unser eigen, sondern von obgemeldtem Pfarrer entlehnet war, jeder hatte ein abgenutztes stumpfes Messer, selbige waren unser Eigentum, und sonsten nichts; ferner bedurften wir auch weder Schüsseln, Teller, Löffel, Gabeln, Kessel, Pfannen, Rost, Bratspieß, Salzbüchs noch ander Tisch- und Küchengeschirr, denn unser Hafen war zugleich unser Schüssel, und unsere Hände waren auch unsere Gabeln und Löffel, wollten wir aber trinken, so geschah es durch ein Rohr aus dem Brunnen, oder wir hängten das Maul hinein, wie Gideons Kriegsleute. Von allerhand Gewand, Wollen, Seiden, Baumwollen und Leinen, beides zu Betten, Tischen und Tapezereien hatten wir nichts, als was wir auf dem Leib trugen, weil wir für uns genug zu haben schätzten, wenn wir uns vor Regen und Frost beschützen konnten. Sonsten hielten wir in unserer Haushaltung keine gewisse Regel oder Ordnung, außerhalb an Sonn- und Feiertagen, an welchen wir schon um Mitternacht hinzugehen anfingen, damit wir noch frühe genug, ohne männiglichs Vermerken, in obgemeldten Pfarrherrns Kirche, die etwas vom Dorf abgelegen war, kommen, und dem Gottesdienst abwarten können, in derselben verfügten wir uns auf die zerbrochne Orgel, an welchem Ort wir sowohl auf den Altar als zu der Kanzel sehen konnten. Als ich das erstemal den Pfarrherrn auf dieselbige steigen sah, fragete ich meinen Einsiedel, was er doch in demselben großen Zuber machen wollte? Nach verrichtetem Gottesdienst aber gingen wir ebenso verstohlen wieder heim, als wir hinkommen waren, und nachdem wir mit müdem Leib und Füßen zu unserer Wohnung kamen, aßen wir mit guten Zähnen übel, alsdann brachte der Einsiedel die übrige Zeit zu mit Beten, und mich in gottseligen Dingen zu unterrichten.
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