Wilm Hüffer
Roman
© Dittrich Verlag ist ein Imprint
der Velbrück GmbH, Weilerswist-Metternich 2021
ISBN 978-3-947373-75-8
Satz: Gaja Busch, Berlin
Cover: Helmi Schwarz-Seibt, Leverkusen, unter Verwendung eines Hegel-Porträts von Jakob Schlesinger (1931) in einer Bearbeitung von Holger Braune (c/o Rosenfeldt Filmproduktion)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.deabrufbar.
»Die Philosophen haben die Welt nur verschieden verschont. Es kommt darauf an, sich in ihr zu erkennen.«
Hinrich Giers
Binsenburger Allee
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Fichtenbuckel
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Haus Louisa
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Villa Mögen
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Beim Ochsenheimer
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Grümbels Garten
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Palais Blaich
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Galerie Giers
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Du solltest mich nicht missverstehen: Ich schulde dir nichts. Schon gar nicht diesen Bericht – nach der Katastrophe von Binsenburg. Zwar gäbe es viel zu sagen. Sehr viel. Doch nachdem ich alles gründlich durchgegangen bin – meine sämtlichen Notizen, meine Berichte, meine Aufnahmen –, werde ich mich kurzfassen, nur das Allerwichtigste notieren. Mehr dürftest du von mir kaum verlangen können – nach allem, was geschehen ist. Zu tief sitzen manche der Verletzungen, die du mir zugefügt hast. Ich schreibe lediglich in der Hoffnung, dass du an der eingetretenen Situation noch etwas ändern kannst. Dass du bereit bist, eine gewisse Form der Wiedergutmachung zu leisten. Nicht an mir, wie ich hervorheben möchte (es läge mir vollkommen fern, mich in den Vordergrund drängen zu wollen), sondern im Dienst an der Gesellschaft, die dank deiner Berichterstattung von allergrößter Dummheit verdüstert zu werden droht.
Wären wir uns nicht zufällig in der herbstgoldenen Binsenburger Allee wiederbegegnet, hätte ich vermutlich gar nicht damit begonnen, diesen Bericht zu schreiben. Doch als wir uns gegenüberstanden, der Wind die Blätter aufwirbelte und ich zuerst gar nicht fassen konnte, dass du, die gefeierte Gesellschaftsreporterin, nach Binsenburg zurückgekehrt warst, stand auch alles andere wieder vor meinen Augen: der hoffnungsvolle Frühling in dieser Stadt, jene Wochen nie für möglich gehaltener geistiger Errungenschaften – und die Enttäuschung, das alles in den Schmutz falscher Verdächtigungen gezogen zu sehen.
Vor allem war ich, wie ich zugebe, verärgert, dir diese widersprüchliche Empfindung nicht zumindest in wenigen Sätzen erläutern zu können. Es hat mich gequält, dein Mienenspiel zu beobachten, während ich, dein ehemaliger Praktikant, dein süßer Junge, nach den richtigen Worten gesucht habe. Wie du mich gemustert hast, mit diesem unterdrückten Lächeln, das die Überzeugung verriet, mich im Unrecht zu wissen und deshalb auf meine Klärungsversuche gar nicht angewiesen zu sein. Ja, es geschieht vermutlich aus einer gewissen Verärgerung, dass ich dir im Nachhinein ein korrektes Bild von dem zu vermitteln versuche, was ich hier in Binsenburg unternommen habe: nichts Geringeres, als den größten Philosophen unserer Zeit wieder zum Sprechen zu bewegen. Jawohl, ich habe Hinrich Giers davon überzeugen wollen, dass er nicht verstummen, unsere Zeit nicht ihrem Schicksal überlassen dürfe. Dass er zurückkehren müsse auf die Bühne unseres modernen Lebens. Dass er es nicht verantworten könne, sich seiner aufklärerischen Aufgabe zu entziehen und noch länger vor der Welt in Binsenburg zu verbergen.
Wochen größter Anstrengungen habe ich in dieses Unterfangen gesetzt, und so viel möchte ich vorwegnehmen, dass du dir davon einen ganz falschen Eindruck, ja sogar die absurden Behauptungen zu eigen gemacht hast, die bis heute über den Philosophen verbreitet werden – in der offenkundigen Absicht, die Integrität seiner Persönlichkeit zu beschädigen. Es bleibt meine Hoffnung, dir diese gravierenden Fehler halbwegs einsichtig machen zu können. Zwar schweigt der Professor unverändert, das lässt sich nicht bestreiten. Doch wenn er von neuem das Wort ergreift, wird die Philosophie wieder zur Geltung gelangen, wird der moderne Mensch die überanstrengten Gebärden ablegen, mit denen er sich unaufhörlich wichtig zu machen und in den Mittelpunkt der Welt zu stellen versucht. Ist es vollkommen abwegig, sich von diesem Moment den Anbruch einer neuen Epoche der Weltgeschichte zu versprechen? Wäre es nicht versöhnlich, am Ende sagen zu können, wir beide seien damals, in Binsenburg, dabei gewesen?
Ich möchte es offen aussprechen: besonders hat mich verärgert, dass du bei unserer unverhofften herbstlichen Begegnung gleich wieder auf den Fleig-Skandal zu sprechen gekommen bist, jene Tage, in denen der Fernsehphilosoph auf offener Bühne seine Selbstvernichtung betrieben hat. Als ob der Streit zwischen ihm und Hinrich Giers der eigentliche Inhalt jenes Binsenburger Frühlings gewesen sei. Als ob ich dir nicht damals schon nahezubringen versucht hätte, wie falsch du damit liegst. Selbst unser Wiedersehen hast du genutzt, mich nochmals wissen zu lassen, dass dem Menschen großes Unrecht geschehen sei. Ja, welches denn?
Glaubst du wirklich, Julian Fleig hätte auf Dauer seinen Nimbus als Zeitgeist-Guru aufrechterhalten können? Ein Aufschneider, der sich in seiner Sendung ungebremst verbreiten durfte, ohne jemals etwas Sinnvolles gesagt zu haben? Mag sein, dass er gemessen an seiner dürftigen Expertise eine Menge erreicht hatte. Dass es kaum jemanden gab, der damals nicht Fleig gelesen hätte, um mitreden zu können. Doch als er den wichtigsten Denker unserer Zeit herausgefordert, sich dazu verstiegen hat, Hinrich Giers ein Fernsehduell aufzwingen zu wollen, war mehr als absehbar gewesen, wie die Dinge enden würden. Was für eine Selbstüberschätzung dieses Blasebalgs, durch einen Sieg über den Philosophen die endgültige Meinungsführerschaft übernehmen zu wollen.
Was ich damit zu tun habe, dass dieser Wunsch nicht in Erfüllung gegangen ist? Gar nichts. Als ob es dazu irgendwelcher Anstrengungen von meiner Seite bedurft hätte. Er selbst hat das besorgt, mit seinen irreführenden Äußerungen. Selbst die Wohlmeinenden haben damals begriffen, dass der einzige Antrieb seines Lebens eine wahnhafte Fixierung auf Hinrich Giers gewesen war, die vergebliche Revolte des Schülers gegen den übermächtigen Meister, das übliche Drama der akademischen Welt, nichts weiter. Niemanden hätte das gekümmert. Allenfalls verwundert mich, wie er mit seinen Falschbehauptungen so schnell dein Interesse hat wecken können. Ein berühmter Philosoph auf Abwegen – war es so leicht gewesen, mit derartigen Hinterzimmer-Geschichten die Reporterin aus Frankfurt anzulocken, den neuen Star am Himmel der Gesellschaftsreportage?
Читать дальше