1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 Die hier angeführte Definition eines orthogeriatrischen Patienten orientiert sich – bezogen auf die Einstufung als geriatrischer Patient – an diesen beiden Festlegungen. Dabei muss zur Einordnung eines orthogeriatrischen Patienten neben der o. g. Zuordnung zum geriatrischen Patientengut eine orthopädische Hauptdiagnose als führende Behandlungsdiagnose (stationär und/oder ambulant) vorliegen.
Orthogeriatrische Patienten sind definiert durch eine orthopädische Hauptdiagnose, aufgrund derer sie behandelt werden, und entweder einem Alter von mindestens 80 Jahren oder 70 Jahren und älter mit gleichzeitigem Vorliegen von mindestens 2 GTMK.
Tab. 1.1: Definition der geriatrietypischen Multimorbidität (Borchelt et al. 2004, S. 6)
MerkmalkomplexDiagnose-Kategorien
Wesentlicher Unterschied zum alterstraumatologischen Patientengut ist beim orthogeriatrischen Patienten in der Regel das Fehlen einer notfallmäßigen Behandlungsnotwendigkeit, so dass insbesondere bei planbaren Eingriffen ein präinterventioneller Zeitraum besteht. Gerade dieser sollte und muss multiprofessionell genutzt werden, um die perioperative Komplikationsrate zu senken und das Outcome zu verbessern (Wirtz und Kohlhof 2019).
Im besten Fall bleibt der Patient nur temporär durch die orthopädische Hauptdiagnose bedingt ein orthogeriatrischer Fall. Führt die orthopädische Hauptdiagnose jedoch zu einem Verlust der Selbstständigkeit im Alltag bzw. zu dem Auftreten weiterer geriatrietypischer Komorbiditäten, so muss die orthopädische Erkrankung selbst als eigenständige Beeinträchtigung und Ursache der geriatrietypischen Multimorbidität berücksichtigt werden. Beispielsweise kann durch das Vorliegen einer Girdlestone-Situation bei einem älteren Patienten (älter als 70 Jahre), der bis dahin in seinem Alter weitestgehend selbstständig und nicht geriatrisch war, für die Dauer bis zur Reimplantation und Wiederaufnahme der Mobilisation ein signifikanter Verlust der Selbständigkeit auftreten, was die Definition des orthogeriatrischen Patienten erfüllt. Ebenfalls gilt zu berücksichtigen, dass – im Einklang mit den Ergebnissen der Essener Konsensus-Konferenz – ein hohes Komplikationsrisiko im Einzelfall auch ohne Vorliegen von mind. 2 zugeordneten Merkmalkomplexen bestehen kann und dementsprechend ein Patient als orthogeriatrisch eingestuft werden muss. Dies ist beispielsweise bei periprothetischen Infektionen mit begleitender Sepsis oder auch bei Vorliegen einer Spondylodiszitis der Fall.
Ältere Patienten, die bis zur Behandlung aufgrund einer orthopädischen Erkrankung nicht geriatrisch eingestuft wurden, können entweder aufgrund des Verlustes der Selbständigkeit während und nach der orthopädischen Behandlung sowie auch aufgrund der Schwere der orthopädischen Erkrankung zum orthogeriatrischen Patienten werden.
Entscheidend für die erfolgreiche Behandlung der orthogeriatrischen Patienten ist – analog in der Behandlung der alterstraumatologischen Patienten – das Vorhandensein eines interdisziplinären Teams, das in der Lage ist, sowohl die orthopädische Erkrankung therapeutisch (konservativ und operativ) als auch die geriatrische Multimorbidität und damit bedingte erhöhte Vulnerabilität zu adressieren. Aus dem Bereich der Alterstraumatologie sind derartige Konzepte bereits sehr erfolgreich umgesetzt und wissenschaftlich belegt worden (Rapp et al. 2020). Für den orthogeriatrischen Patienten (mit der hier vorgestellten Definition) sollten ebenfalls Versorgungskonzepte wissenschaftlich aufgearbeitet werden, um evidenzbasiert die daraus zu generierenden Vorteile auch für das orthopädische Patientengut zu erzielen.
Borchelt M, Pientka L, Wrobel N; Gemeinsame Arbeitsgruppe der Bundesarbeitsgemeinschaft der Klinisch-Geriatrischen Einrichtungen e. V., der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie e. V. und der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie e. V. (2004) Abgrenzungskriterien der Geriatrie. Version V1.3 mit Stand vom 16.3.2004. http://www.geriatrie-drg.de/public/docs/Abgrenzungskriterien_Geriatrie_V13_16-03-04.pdf, Zugriff am 09.07.2021.
Hoogendijk EO, Afilalo J, Ensrud KE, Kowal P, Onder G, Fried LP: Frailty: implications for clinical practice and public health. Lancet (2019): 394, 1365–1375.
Pilotto A, Custodero C, Maggi S, Polidori MC, Veronese N, Ferucci L: A multidimensional approach to frailty in older people. Ageing Res Rev (2020): 60, 101047.
Rapp K, Becker C, Todd C, Rothenbacher D, Schulz C, König HH, Liener U, Hartwig E, Büchele G. The Association Between Orthogeriatric Co-Management and Mortality Following Hip Fracture. An Observational Study of 58 000 Patients From 828 Hospitals. Dtsch Arztbl Int (2020): 117, 53-59.
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Sieber CC. Der ältere Patient–wer ist das? Internist (Berl) (2007) 48(11), 1190, 1192-4.
Wirtz DC, Kohlhof H. The geriatric patient: special aspects of peri-operative management. EFORT Open Rev. (2019): 4, 240-247.
2 Epidemiologie und Kosten orthogeriatrischer Eingriffe
Ursula Marschall
Der demografische Wandel und die damit einhergehende Alterung der Gesellschaft sind kennzeichnend für die heutigen Industrienationen. In Deutschland ist von 2015 bis 2050 mit einem Bevölkerungszuwachs von 46 % bei den Über-70-Jährigen zu rechnen. Deswegen, und weil orthopädische Eingriffe insbesondere bei geriatrischen Patienten dazu beitragen, die Mobilität und Eigenständigkeit auch im hohen Alter zu erhalten, ist die Quantifizierung orthogeriatrischer Eingriffe bedeutsam, um sich auf zukünftige Herausforderungen einstellen zu können. Nachfolgend werden am Beispiel der primären Hüft- und Knieendoprothetik sowie des aseptischen Prothesenwechsels die Inanspruchnahme und Kosten für geriatrische und nicht geriatrische Patienten in verschiedenen Altersgruppen dargestellt. Dazu wurden Routinedaten der BARMER verwendet, die nach Alters- und Geschlechtsstandardisierung Aussagen über die Versorgungssituation in Deutschland ermöglichen.
Definition des Geriatriepatienten und Methodik
Basierend auf der im
Kap. II.1»Definition der Orthogeriatrie« dargestellten Beschreibung eines orthogeriatrischen Patienten (Alter > 70 Jahre mit geriatrietypischer Multimorbidität) wurde eine Analyse der Krankenhausabrechnungsdaten der BARMER mit rund 9 Mio. Versicherten für die Jahre 2017 bis 2020 durchgeführt. Zur Identifikation stationärer Fälle mit primärer Hüft- und Knieendoprothetik wurden Kombinationen der Kox- oder Gonarthrose (ICD-10: M16 oder M17) in Verbindung mit den OPS-Kodes für die Endoprothetik des Hüft- oder Kniegelenks (OPS: 5-820 oder 5-822) verwendet. Ein einzeitiger aseptischer Wechsel einer Hüft- oder Kniegelenksprothese wurde definiert durch eine Komplikationsdiagnose bei Hüft- beziehungsweise Kniegelenksprothesen (ICD-10: T84.04 oder T84.05, erst seit 2018) in Verbindung mit einer OPS für den Wechsel einer Endoprothese (OPS: 5-821 oder 5-823). Patienten mit dokumentierten periprothetischen Hüft- oder Kniefrakturen, eitriger Arthritis, periprothetischer Infektion und Re-Implantation nach vorheriger Explantation wurden für diese Analyse ausgeschlossen.
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