»Man taucht sozusagen ein in das, was um einen vorgeht, in die Felsen, in die notwendigen Bewegungen … die Suche nach Haltepunkten im Fels … nach der richtigen Lage des Körpers – man ist dermaßen absorbiert davon, dass man das Bewusstsein der eigenen Identität verlieren und mit dem Fels verschmelzen könnte. (…) Es geschieht einfach … und doch ist man außerordentlich konzentriert. (…) Es ist angenehm. Da ist ein Gefühl der totalen Beteiligung … Man fühlt sich wie ein Panther, der sich mit Kraft den Felsen hinaufarbeitet.« (Csikszentmihalyi, 1985, S. 68).
Das Flow-Erleben ist ein Zustand der inneren Freude, der Selbstvergessenheit, erhöhter Wahrnehmungsfähigkeit, hoher Energie und Mühelosigkeit des Tuns (Csikszentmihalyi & Csikszentmihalyi, 1991, S. 11). Csikszentmihalyi und andere (1985, 1991; Nakamura & Csikszentmihaly, 2014) haben den »Flow« während des aktiven Tuns untersucht, beim Tanzen, Schachspielen oder Lernen. Derselbe Zustand kann auch beim körperlichen »Nichtstun« (Albrecht, 1990) eintreten, z. B. bei der Meditation, bei der Betrachtung von Kunst, beim Lesen oder Nachdenken (Benson, 1997; Petermann & Vaitl, 2014).
Beispiel 3: Gelassenheit als außergewöhnlicher Bewusstseinszustand: »Die leere Unendlichkeit«
Daneben gibt es eine noch tiefere Form der Gelassenheit, so wie sie manche Menschen etwa während der Meditation erleben.
Ein Beispiel dafür findet sich in folgenden Bericht eines Neuseeländers, der im Urlaub in der Schweiz während eines Vortrags über Meditation unerwartet einen solchen Zustand erlebte:
»Plötzlich wurde mein herumwandernder Geist im wahrsten Sinne des Wortes ruhig. (…) Alle meine Sinne waren sehr wach und registrierten alles, was um mich herum geschah. Es war, als ob mein »Selbst« an einen entfernten Ort gegangen war, aber da war ein großes Gefühl der Lebendigkeit, der (räumlichen) Weite, aber vor allem ein großes Gefühl innerer Ruhe und Ordnung. Mein Körper war still und blieb so. Ich kann mich daran erinnern, dass ich eine Zeit lang nur zweidimensional sah, dann jedoch gelang es mir, das Bild wieder dreidimensional zu machen, und ich hatte das Gefühl, dass ich nicht wollte, dass mich irgendjemand ansprach (als ob der magische Zauber dadurch gebrochen werden könnte) und ich war mir auch nicht sicher, dass ich die Worte finden könnte, um zu antworten, falls irgendjemand auf mich zukäme. Ich fragte mich innerlich, wer ich war und mein Geburtstag und stellte so fest, dass mein Geist in gewissem Umfang noch intakt war. Da war dieses große Gefühl von Klarheit und Präzision, und später beschloss ich, einen Spaziergang zu machen. (…)
Als ich die Wiese am Fuß des Bergpfades betrat, war es, als ob ich im Wunderland war. Da war diese außerordentliche Vielfalt von Geräuschen, die die Insekten im Gras von sich gaben, da war eine erstaunliche Vista von Aussichten und Farben. Ich konnte alle möglichen Arten von Insekten, Fliegen, Bienen usw. identifizieren, die im Gras herumflogen, und ich konnte die wunderbarsten Ansichten sehen und die wunderbarsten Töne hören. Es war wie der Himmel auf Erden. Ich wusste in dem Moment, was Schönheit ist und ich wusste auch, was Liebe ist. Ich war in einem außerordentlichen Zustand der Zeitlosigkeit (obwohl ich mir durchaus auch der chronologischen Zeit bewusst war, so wie sie die Uhr anzeigt). Meine Bewegungen kamen mir weder schnell noch langsam vor, sondern alles schien genau in der richtigen Geschwindigkeit zu geschehen. Da war kein Gefühl des Vergleichens, während ich alle diese wunderbaren Dinge sich vor mir entfalten sah. Ich kam an einem kleinen Baum vorbei und ich empfand eine außergewöhnliche Zärtlichkeit für diesen Baum, so wie Eltern gegenüber ihrem Kind. Ich berührte ihn und liebkoste die Blätter dieses Baums. Ich sah den Wald und ich war außerordentlich emotional bewegt (aber kontrolliert) in Bezug auf den Wald und die Bäume da drin. Ich staunte über die Struktur der Baumrinde, ich berührte sie, ich streichelte sie, ich sah das Moos auf der Rinde und ich berührte und streichelte sie. Es war überwältigend wundervoll.« (K. W., persönliche Kommunikation; Übersetzung durch die Verfasserin).
Dieser Zustand dauerte mehrere Stunden an und wurde dann schwächer, bis er sich nach einigen Wochen allmählich verlor.
Interessanterweise berichtet der Autor, dass dieser außergewöhnliche Bewusstseinszustand in dem Moment begann, als er »Introspektion auf die Introspektion« machte (»introspecting on introspection«). Ähnliches findet sich auch bei Carl Albrecht (1990): Nach ihm liegt der Weg zur absoluten inneren Ruhe darin, den Zustand der Versunkenheit selber zum Gegenstand der Innenschau zu machen. Ähnliche Berichte finden sich in unterschiedlichen Meditationstraditionen ebenso wie im Alltag, bei religiösen Menschen ebenso wie bei Agnostikern und Atheisten, zum Teil auch im Kontext sogenannter mystischer Erfahrungen (Bock, 1991; Benson, 1997; Kapleau, 1965; Roberts, 1982; Wren-Lewis, 1988). Herausragendes Kennzeichen ist das Erleben von innerer Leere, Ichlosigkeit und Zeitlosigkeit.
Eine vorläufige Definition von Gelassenheit
Diese drei Beispiele veranschaulichen unterschiedliche Formen von Gelassenheit: Gelassenheit im Alltag, Versunkenheit und Flow-Erleben und absolute innere Ruhe; Letzteres ist ein außergewöhnlicher Bewusstseinszustand wie ihn manche Menschen zeitweise erleben.
Die Gemeinsamkeit liegt dabei in dem – mehr oder weniger stark ausgeprägten – Erleben innerer Ruhe, verbunden mit einem Gefühl der Mühelosigkeit und des Wohlbefindens (z. B. Abele & Becker, 1994; Dodge, Daly, Huyton, & Sanders, 2012; Huppert, Keverne & Balis, 2006). Auf der mentalen Ebene ist Gelassenheit durch die »Einheitlichkeit« (Albrecht, 1990) der bewussten Gedanken, Gefühle und Empfindungen gekennzeichnet – also das Fehlen von bewussten Widersprüchen und Konflikten. Dies ermöglicht es, auch in schwierigen Situationen einen klaren Kopf zu behalten und handlungsfähig zu bleiben.
Eine pragmatische Defintion von Gelassenheit
Gelassenheit wird hier definiert als ein Zustand innerer Ruhe, verbunden mit einem Gefühl der Mühelosigkeit und des Wohlbefindens – sowie der Abwesenheit von Konflikten in den bewussten mentalen Prozessen (Gedanken, Gefühlen und Empfindungen).
Da Gelassenheit hier als ein situativer Zustand (state) verstanden wird, grenzt sich diese Definition von Konzepten ab, in denen Gelassenheit in Richtung einer überdauernden Lebenseinstellung (trait) definiert wird. In einem solchen, breiteren Konzepten von Gelassenheit werden Komponenten wie der Glaube an höhere Mächte, das Erreichen von Lebenszielen und ähnliches mehr höher gewichtet.
Das Gegenteil von Gelassenheit: der Zustand des akuten Konflikts
Am anderen Ende des breiten Spektrums von Bewusstseinszuständen finden sich drei verschiedene Zustände zunehmender Konflikthaftigkeit – in verschiedener Hinsicht gewissermaßen das Gegenteil von Gelassenheit.
Im Stadium des bewussten, akuten Konflikts (Wagner et al., 1984) drehen sich die Gedanken eine Zeit lang im Kreis, verbunden mit innerer Unruhe, Erregung und Anspannung. Herausragendes Kennzeichnen dieses Zustands ist die kognitive und emotionale »innere Zerrissenheit«: unaufgelöste Widersprüche, fehlende Lösungen, Diskrepanzen und Dilemmata, gekoppelt mit einem Gefühl der Ausweglosigkeit. Ein akuter Konflikt kann einerseits eskalieren – bis hin zu Panik. Andererseits können akute Konflikte auch mehr oder weniger erfolgreich beherrscht, überschrieben oder ausgeblendet werden – ein Zustand erhöhter Anstrengung, Volition oder Impulsivität ist die Folge.
Eine kleine pragmatische Typologie innerer Konflikte
Pragmatisch gesehen lassen sich drei Typen von Bewusstseinskonflikten (Wagner, 2004) unterscheiden: Entscheidungskonflikte, Umsetzungskonflikte und Konflikte mit der Umwelt.
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