Irgendein Verwandter – Vater, Bruder, Onkel – oder ein zufällig vorbeiziehender Bauerntölpel hatte das Jiddenmädchen schwanger gemacht. Blanka kannte sich aus, das hatte sie das Leben ihrer Kundinnen, aber auch das eigene gelehrt, war doch auch eines ihrer Kinder, der Petrik, in ihrem Bauch gewachsen, nachdem die französischen Soldaten ihr den Mann erschlagen und das Vieh aus den Ställen gezerrt hatten.
Aber schön war sie, diese Charna. Und hochmütig. Denn noch nie hatte Blanka gesehen, dass eine Mutter ihr das Kind eigenhändig übergab. Sie hätte es nicht annehmen sollen, das Kind, es hatte den Tod und die Mutter den Schmerz nicht verdient. Doch da dachte sie an ihren Petrik und seine verbotene Schnapsbrennerei, sie dachte an seine Pferdediebstähle und die Beamten des russischen Zaren, die ihr den Jungen bald holen würden, um einen Soldaten aus ihm zu machen, und was wurde dann aus ihr?
Blanka nahm das Geld und versprach den Tod des Kindes innerhalb von sechs Tagen. Sie würde es töten wie alle anderen zuvor, in die Hütte bringen und vergessen, einfach vergessen, den Stall putzen, das Pferd striegeln und den Weizen schneiden, einfahren und dreschen, schöne Tage, keiner ist betrunken und keiner schlüge und alle – auch die Tiere und die Pflanzen – wären gesund, das Wetter trocken, genügend Nahrung und das wimmernde Kind weit weg.
Der Mann auf dem Bock, der die schwarze Charna gebracht hatte, schrie in einer unverständlichen Sprache. Die Frau musterte Blanka und den Hof mit flüchtigen Blicken, hellwach – sie war eine, der nichts entging. Der Mann liess die Peitsche knallen, das Pferd zuckte zusammen. Die Frau drückte das Bündel noch fester gegen ihre Brust und bohrte sich in Blankas Augen. Und da geschah, wovor Blanka sich am meisten gefürchtet hatte: In ihr erwachte ein Gefühl.
Erleichterung zeigte sich auf Charnas Gesicht, eine ungezügelte Hoffnung.
Blanka leckte sich eine Träne von den Lippen und nahm mit entschiedenem Griff, wie er Menschen eigen ist, die, einmal in Bewegung geraten, nicht mehr aufzuhalten sind, das Kind an sich. Charna zog das schwarze Tuch über der Schulter zusammen, wandte sich ab und lief zum Wagen, wieder mit hoch erhobenem Kopf, als trüge sie eine Pflicht und eine Sünde zugleich.
Doch da verlor sie die Fassung, blieb abrupt stehen, wütete mit den teuren Stiefeln im Schlamm, zerriss sich die Bluse über der Brust und ein Gebrüll, das dem eines durstigen Ochsen ähnelte, suchte sich den Weg aus ihrem Mund. Blanka erstarrte und es schien ihr, als suchte die Fremde nicht nur ihren unerträglichen Schmerz aus sich herauszuschaffen, sondern als wütete sie mit aller Kraft gegen die unsichtbaren Mauern eines für immer geschlossenen Kerkers.
Blanka legte die Hand auf ihre Brust und spürte diese Sehnsucht, die beim ersten Blick in die grasgrünen Augen des Säuglings aus Kupiškis in ihr erwacht war: Dieses Mal würde sie es nicht übers Herz bringen, das Kind zu töten.
Nach Hannahs Besäufnis und nachdem sie das Mädchen so unerwartet heftig verprügelt hatte, fasste Blanka Pawelka einen Entschluss. Sie wartete den Frühling ab und ergriff in Richtung des galizischen Sambir die Flucht. Was vermochte sie, die Bäuerin aus dem russisch-polnischen Zamość, gegen die Dämonen des einstmals todgeweihten Kindes, das so schwarz wie seine Mutter geworden war, auszurichten? Und so erinnerte sie sich ihrer Nichte Karolina Lukaszka, die in Sambir, in der Nähe des galizischen Lemberg, auf dem Gut des polnischen Grafen Tomasz Szujski den Haushalt führte und ihr anlässlich eines Besuches erzählt hatte, dass der Pächter, Menachem Yuter, ein Jude war, ein grossherziger Mann. Bei ihm wollte sie das Kind abladen, hatte sie doch keinen Zweifel an der Herkunft der armen Charna.
Am ersten Abend, als der Säugling bei ihr geblieben war, hatte Blanka in den nassen, stinkenden Windeln einen Fetzen aus dickem Papier mit fremdartiger Schrift gefunden. Ihre Neugier war geweckt und sie zog den erstbesten Hausierer, von denen zahlreiche im Frühjahr und Herbst ihren Hof besuchten, ins Haus und bat ihn, das Geschriebene zu entziffern. Der Händler, ein freundlicher, bärtiger Mann, nahm das Schriftstück, da er selbst nicht lesen konnte, an sich mit dem Versprechen zurückzukehren, was er auch tat, und legte wenige Tage später den Papierfetzen mit bedeutungsvoller Miene auf Blankas Tisch, trank aus dem Wasserkrug und berichtete, es handle sich um die Anschrift eines ehrenhaften Fishel Kaplan, der im fernen südamerikanischen Chile in einer Stadt namens Valparaiso ein Haus besitze und Handel mit Weizen betreibe. Der Mann wischte sich das Wasser vom Mund und schaute Blanka misstrauisch an, er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie eine einfache polnische Bäuerin zu dieser Nachricht gekommen war. Doch dann fuhr er fort, dieser Fishel Kaplan hätte geschrieben, dass dieses Chile ein gutes Land wäre, das sich nach dem Unabhängigkeitskrieg für die Juden geöffnet hätte, und wenn Charna gezwungen würde, in Kupiškis Chalitza zu machen, wäre das für ihn Grund genug, sie und ihr Kind im chilenischen Valparaiso zu erwarten, er wäre stolz und hocherfreut, sie bei sich aufnehmen zu dürfen. Blanka schwieg. Und versuchte zu verstehen, wie dieses ferne Chile und Valparaiso in ihre enge polnische Stube hatte einbrechen können. Der schwarzen Charna wäre es offensichtlich möglich gewesen, sich und ihr Kind in diesem chilenischen Valparaiso in Sicherheit zu bringen, das verstand Blanka, wenn sich ihr auch der Sinn des Wortes Chalitza verschloss und sie beim besten Willen nicht dahinterkam, warum die Frau dennoch das Kind seinem sicheren Tod überlassen hatte.
Und warum hatte sie das Papier in die Windel gesteckt?
Ohne auf die stummen Fragen des Hausierers einzugehen, drückte sie ihm ein paar Münzen in die Hand und schob ihn aus ihrem Haus und hörte nicht hin, als er sich umwandte und sie kichernd fragte, ob sie denn wisse, was Fishel bedeute?
Doch nicht nur, weil sie dieses Kind und das Papier mit der chilenischen Anschrift zwölf Jahre später dem Juden Menachem Yuter in Sambir übergeben und es solcherart der Mutter, der schwarzen Charna, zurückgeben wollte, zog Blanka das Pferd aus dem Stall, noch viel drängender war ihr, das schwarze Balg aus dem russisch-polnischen Reich über die Grenze ins österreichische Land zu bringen, weit weg, denn das unberechenbare Mädchen, das mit dem Trinken begonnen hatte, drohte am Ende die Aufmerksamkeit der Gendarmerie auf sich zu ziehen, und dann wäre es aus mit Blankas und ihrer Familie Leben. Die Polizisten des Zaren würden ihrer sündhaften Tätigkeit auf die Spur kommen, die Leichen der Säuglinge, die Blanka hinter der Hütte in der Erde verscharrt hatte, entdecken und sie und ihren Sohn Petrik am nächsten Baum aufknüpfen.
Nicht üblich war es zwar, Frauen auf dem Bock eines Wagens zu sehen. Es schien ihr jedoch undenkbar, Petrik oder den blöden Knecht zu bitten, da sie auch ihnen gegenüber verschwieg, woher das wenige zusätzliche Geld und damit auch Hannah gekommen waren, und dass sie die ihr anvertrauten Säuglinge in einer entfernten Hütte austrocknen liess. Sie war es, die für die Familie sorgte und ausschliesslich die Last des Überlebens trug. Ihre Familie bedeutete ihr Schicksal, Gefäss, Welt, Glück und Gott auf Erden, umso mehr, da ihr der Hunger die älteren Kinder und zwei ihrer Geschwister und ein Trupp marodierender, französischer Soldaten den Mann geraubt hatten. Weder Fleiss noch Mut oder Gottesfurcht hatten geholfen. Stolz musste man sein und sich zu wehren wissen. Und so spannte sie das alte, magere Pferd eines Nachts vor den Karren. Sie würde die Blicke und den Spott aushalten, eine Frau auf dem Bock, was für eine Schande, doch verfügte sie über einen festen Willen und die Fähigkeit, nur gerade so viel zu erfassen, wie notwendig war, nicht zurück- und nicht vorwärtsschauen, davon hing ihr Überleben ab, und das Kind musste weg.
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