Er versucht, an nichts mehr zu denken. Aber wenn er die Termine richtig im Kopf hat, müsste bald jemand von der Baufirma aufkreuzen, um die Renovation und den Umbau des Bootshauses zu besprechen. Denn in der kleinen Bootshütte, wie sie jetzt am Wasser steht, wird der Rum Runner nicht unterzubringen sein.
Mit geschlossenen Augen putzt sich Gschwind die Zähne; gedanklich umschleicht er das Schweizer Rapacitanium, das seine Karriere bei Valnoya beflügeln wird.
Endlich legt er sich ins Bett und schaut, letzte Kräfte aufbietend, kurz nach, wie viel er heute mit seinen Fonds verdient hat. Die Papiere der mit Wasserkraft verbandelten Konzerne hat er zum Glück noch rechtzeitig abgestoßen, die hätten seine Bilanz merklich nach unten gezogen; jetzt zeigt sich ihm eine schöne, vierstellige Summe. Eine Summe, die ihn darüber hinwegtröstet, mit Rina nicht immer gleicher Meinung zu sein. Ehe er einschläft, verdoppelt er, ohne Rücksprache mit Bahnsen, die Anzahl seiner Valnoya-Aktien.
Dass er auch ohne Wecker kurz nach fünf erwacht, und zwar unabhängig davon, wann und in welchem Zustand er sich schlafen legt, ist für Rina, falls er sie richtig verstanden hat, nach wie vor unbegreiflich. Er könne es sich nicht leisten, mit dem Schlafen zu trödeln, hat er vor Jahren einmal scherzhaft eingeworfen, und diese stillen Randstunden am frühen Morgen und späten Abend, wenn alle anderen schlafen, zählen seit Studienzeiten zu seinen liebsten; er kann sich in diesen Stunden am besten konzentrieren. Gschwind versteht einfach nicht, wie Rina mit ihrer Tagesleistung zufrieden sein kann, wenn sie sich regelmäßig erlaubt, erst nach acht das Bett zu verlassen.
Nach drei Tassen Kaffee und 90 Minuten am Laptop verlässt Gschwind die Küche und geht die Treppe hoch in die erste Etage, wo er, bemüht, seine Rina nicht zu wecken, die hintersten Winkel seines begehbaren Kleiderschranks nach abgetragenen, landwirtschaftstauglichen Kleidern durchforstet. Kleider machen Leute , das hat er bereits während seines Studiums der Ökonomie begriffen; ein passendes Outfit gilt als wesentliche Voraussetzung des Erfolgs. Allerdings stößt er auf nichts als schicke Button-down-Hemden und dunkle Jacketts. Er fragt sich, ob es denn möglich sei, dass er inzwischen keine Klamotten mehr hat, in denen er sich halbwegs glaubhaft als Landwirt präsentieren könnte.
Die doch recht üble Situation mit Levin umwölkt seine Gedanken. Was Bernhard gestern alles von sich gegeben hat, ist Raubbau an seinen Nerven.
Gschwind ist sich sicher, es wäre richtig, diese Angelegenheit zu priorisieren. Er befürchtet, seine Rina werde ihn nicht dabei unterstützen, ihren aus der Reihe tanzenden Sohn zurück ans Gymnasium zu zwingen. Was er am Abend zuvor im Wintergarten von ihr vernommen hat, was sie über diese gewiss nur der Fantasie eines Journalisten entsprungenen 73 Prozent an durch Schweizer Konsum verursachter Umweltbelastung gesprochen hat, die angeblich im sogenannten Ausland anfallen, lässt ihn befürchten, sie könnte sich darauf einlassen, diesen idiotischen Brief zu unterschreiben, den die jazzverseuchten Nachbarn wahrscheinlich ökologisch korrekt ans Amt schicken wollen. Wie sehr ihn das stört, mag er sich lieber nicht eingestehen.
Ein Kleiderbügel gleitet ihm aus der Hand und fällt zu Boden; Gschwind befürchtet, seine Rina womöglich geweckt zu haben. Sie ist es gewohnt, ihn früh und lautlos aus dem Haus zu haben. Vor ein paar Monaten, als er ausnahmsweise mal bis kurz nach acht hinter seinem Laptop in der Küche gesessen hatte, machte sie ihm erstaunlich nachdrücklich klar, wie sehr sie das morgendliche Alleinsein schätze, um sanft vom Schlaf in die erste Meditation zu gleiten.
Pascal fühlt sich zu seiner Rina noch immer hingezogen, nur ihr zart und zärtlicher werdendes Vokabular befremdet ihn. Als er Rina vor wenigen Wochen während eines Telefonats mit einer Freundin von ihrem inneren Kind hat reden hören, musste er das Weite suchen.
Jetzt stellt er sich vor, wie ihn Rina, noch halb im Schlaf versunken, vom Schlafzimmer aus energisch bittet, doch leise zu sein. Spöttisch stellt sich Gschwind vor, sie könne ihm das nicht laut sagen, da jegliche Anstrengung sie energetisch aus der fragilen ayurvedischen Balance werfen würde.
Dass Pascal Rina gegenüber derzeit zu etwas bissigen Reaktionen neigt, hat auch damit zu tun, dass er das Gefühl hat, seine Frau schiebe bei ihrem Job als Denkmalpflegerin eine ruhige Kugel, während er selbst sich unter größter Anstrengung echten Herausforderungen stellt. Noch schwerer wiegt, dass sie ihn vor seiner Abreise nach Sambia gebeten hat, darauf zu achten, nicht zu viel zu arbeiten. Sie habe keine Lust, sagte sie mit entschieden ihre Aussage begleitender Handbewegung, ihn demnächst in einer Burnout-Klinik zu besuchen. Damit hat sie Pascal empfindlich verletzt, sodass er inzwischen manchmal denkt, sie glaube tatsächlich, eine Position, wie er sie erreicht hat, sei einfach zu halten.
Ein weiterer Grund seines Unmuts rührt aus der Irritation, dass Rina ihn nicht gefragt hat, was das am Beatenberg entdeckte Rapacitanium für Valnoya bedeutet. Sie hält sich einfach nicht auf dem Laufenden, liest keine Zeitung, hört kein Radio, hat keine News abonniert – wie sie derart informationslos durchs Leben gehen kann, ist Gschwind ein Rätsel. So spürt er auch keine Lust, ihr zu erzählen, dass er heute beweisen wird, Hillers’ Vertrauen auch tatsächlich zu verdienen.
Egal, in welcher Ecke er sucht: Gschwind findet keine Kleider, die sich eignen für einen Besuch bei einem Berglandwirt. Das Gartenhaus kommt ihm in den Sinn, der kleine Geräteschuppen und mit ihm der rostige Nagel, an dem für gewöhnlich eine karierte, verdreckte Jacke hängt.
Draußen empfängt ihn das Dämmerlicht eines Herbsttages, ein schwacher Wind bewegt sanft die alten Weiden, vom Ufer her dringt das Klatschen winziger Wellen an sein Ohr. Vom Innern des Bootshauses ist das ruhige Knarren der Taue zu hören, mit denen das alte Motorboot festgezurrt ist. Gschwind fragt sich, ob er bei der Renovierung des Bootshauses nicht auch gleich eine Heizung einbauen lassen sollte, da die Tropenhölzer, aus denen der Rum Runner gefertigt ist, empfindlich auf Temperaturschwankungen reagieren könnten.
Verträumt steht Gschwind vor seinem Bootshaus und stellt sich vor, wie Ruthenbeck neiderfüllt erblasst, wenn er mitansehen muss, wie sein Nachbar in einem umwerfenden Rum Runner über den See gleiten wird. Das Bild hält ihn für eine Weile gefangen, dann erinnert er sich, im Gartenhaus nach Klamotten suchen zu wollen. Er fragt sich, ob sie eigentlich noch immer einen Gärtner angestellt haben und wann er ihn zum letzten Mal gesehen hat. Dabei fällt ihm auf, dass er auch die Putzfrau schon lange nicht mehr gesehen hat. Er glaubt nicht, dass das an seinen Arbeitszeiten liegt. Allerdings machen Wohnräume und Garten immer einen tadellosen Eindruck auf ihn. Dass der Rasen vollkommen verdorrt ist, hat vielleicht nichts mit einem nachlässigen Gärtner, sondern mit dem landesweiten Verbot zu tun, Grünflächen zu bewässern.
Tatsächlich findet Pascal im Schuppen neben dem Bootshaus eine alte Gärtnerjacke und dunkelgrüne Gummistiefel. An Jacke und Stiefeln klebt trockene Erde; in der Jackentasche steckt eine rostige Gartenschere; Pascal findet das authentisch und zieht die Sachen an.
Er schließt den Reißverschluss der robusten Jacke, schaut an sich herab, findet, dass dies ziemlich gute Kleidung sei. Zu gut für einen Gärtner. Er wird Rina fragen, ob sie dem Gärtner nicht einen zu hohen Lohn bezahlen. Es ist ihr leider zuzutrauen, dass sie die Jacke extra für den Gärtner gekauft hat. Pascal hat nichts gegen Großzügigkeit, aber er findet, sie muss sich lohnen. Sie muss ein Investment sein, das irgendwann in einem Cashback resultiert.
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