Wir finden heute kein Auswahlinstrument, das nicht die Leistungsbereitschaft eines potenziellen Mitarbeiters ebenso bewertet wie vorhandene Kenntnisse und Erfahrungen. Für die Weiterbildung der Mitarbeiter sowie für Auswahlverfahren bedeutet dies langfristig insbesondere im Dienstleistungssektor eine Verschiebung hin zu höherwertigen Tätigkeiten. Für das Personalmanagement selbst heißt das, Mitarbeiter können ihre »Employability« umso stärker gewährleisten, je weniger sie durch elektronische Verfahren ersetzt werden können. Letzteres betrifft im qualifizierten Bereich algorithmische Tätigkeiten, Berechnungsverfahren im Allgemeinen sowie administrative Arbeiten. Zukunftsweisend werden dagegen mehr und mehr qualitativ anspruchsvolle Tätigkeiten wie Beratung, Coaching, Strategie und kreatives Denken. Im Sinne einer sich immer schneller verändernden Wissensgesellschaft werden immer weniger bereits erworbene Kenntnisse eine Rolle spielen, vielmehr die Fähigkeit eines potenziellen Mitarbeiters, sich neue Kenntnisse anzueignen, also im Sinne der Selbstorganisation zu lernen, wie man ein Leben lang lernfähig bleibt.
Im Recruiting bedeutet das, dass sich die Auswahlkriterien weg von reinen Kenntnissen und Erfahrungen hin zu vorhandenen Fähigkeiten entwickeln. Unter »Kenntnissen« sind dabei reine Fachkenntnisse wie IT-, Englisch- oder auch Berufs-Know-how zu verstehen. Der Begriff »Erfahrungen« bezieht sich auf die Berufserfahrung, also Projekterfahrung, Führungserfahrung etc. »Fähigkeiten« schließlich bezeichnen die »weichen« Faktoren, wie beispielsweise Kommunikations-, Team- oder auch Konfliktfähigkeit.
Diese Nomenklatur von Kompetenz hat zum einen den Vorteil, dass sie international anschlussfähig ist (Kenntnisse = Skills/Hard Facts, Erfahrungen = Experiences, Fähigkeiten = Capabilities/Soft Skills/Facts). Zum anderen wird die ältere Nomenklatur von Fach-, Methoden- und Sozialkompetenz abgelöst, die beispielsweise den beruflichen Erfahrungswert (der international und insbesondere in der amerikanischen Kultur bei Bewerbungen stark gewichtet wird) nicht isoliert abbildet. Die hohe Bewertung der Berufserfahrung zeigt sich beispielsweise in der Anordnung des »amerikanischen Lebenslaufes« mit seinem antichronologischen Aufbau, um den Blick zuerst auf die letzte, meist hochwertigste Tätigkeit zu richten. Fertigkeiten werden in unserem Zusammenhang (wir betrachten im Wesentlichen (hoch-)qualifizierte Arbeitsfelder in der Wirtschaft) weniger eine Rolle spielen, da sie motorische Komponenten betreffen. Während Kenntnisse am schnellsten zu erlernen sind, dauert es oft Jahre, bis man relevante Berufserfahrung vorweisen kann, wie Hochschulabsolventen bei ihren ersten Bewerbungen oft leidvoll erfahren. Die eigenen Fähigkeiten zu verändern, zu erweitern oder sich neue anzueignen, stellt hinsichtlich Dauer und Intensität die größte Herausforderung dar (
Abb. 5).
Abb. 5: Kompetenzpyramide
Kompetenzen können also unterteilt werden in Kenntnisse, Erfahrungen und Fähigkeiten einer Person. Der Charakter zählt nicht dazu, denn er ist am wenigsten veränderbar. Unternehmen fokussieren sich vor allem auf veränderbare Kompetenzen bei Mitarbeitern, da diese im Rahmen von vertretbaren Zeiträumen entwicklungsfähig sind. Die geringe Veränderungsdynamik von Charaktereigenschaften vermittelt die Geschichte von Schildkröte und Skorpion (
Abb. 6).
Fähigkeiten gewinnen für das Arbeitsleben zunehmend an Bedeutung. Man bezeichnet sie deshalb inzwischen auch häufig als sogenannte Schlüsselqualifikationen und Unternehmen legen zunehmend mehr Wert auf diese positions- und tätigkeitsübergreifenden Merkmale im Arbeitsprozess, gerade in Hinsicht auf die Qualifizierung für zukünftige Aufgaben. Hierbei sollte man aber unter Schlüsselqualifikationen keine grundlegenden Persönlichkeitsmerkmale oder grundlegende Werthaltungen wie ethisch-religiöse Überzeugungen erwarten, die für den Arbeitsprozess keine unmittelbare Relevanz besitzen und zudem in die Privatsphäre der Person eingreifen.
Auch eine Überbewertung von Schlüsselqualifikationen als universelle eignungsdiagnostische Merkmale für sozusagen jede beliebige Anforderung würde verkennen, dass Kenntnisse, Berufserfahrung oder kognitive Fähigkeiten immer ebenso wesentlich für beruflichen Erfolg bleiben werden. Dennoch sind in der
Abb. 6: Schildkröte und Skorpion
Personalauswahl Fähigkeiten wie Initiative, Verantwortungsbereitschaft, Motivation, Teamfähigkeit etc. für den beruflichen Erfolg als gleichwertig mit den fachlichen Kompetenzen zu werten. Nicht nur hinsichtlich der zu besetzenden Tätigkeit, auch hinsichtlich der vorherrschenden Firmenkultur ist es notwendig, die Personalauswahl auf die bestehenden Verhältnisse in der Unternehmenskultur abzugleichen. So hat jedes Unternehmen unterschiedliche Leitsätze, die sich in der Definition gewünschter Fähigkeiten niederschlagen.
Dabei ist erfolgskritisch, welche Fähigkeiten durch Weiterbildung in adäquatem Zeit- und Geldaufwand verbesserbar sind. Während Kenntnisse und Fertigkeiten sich durch Training relativ schnell verbessern lassen, ist bei Fähigkeiten, aufgrund ihrer Nähe zu allgemeinen Persönlichkeitsmerkmalen, mit höherer Stabilität zu rechnen. Auch dies ist ein Grund, warum sich Auswahlverfahren zunehmend bemühen, Fähigkeiten zu diagnostizieren. Denn was in der Personalauswahl versäumt wird, lässt sich mit erfahrungsgemäß mit Personalentwicklungsmaßnahmen nur unzureichend korrigieren.
In der Vergangenheit wurden größtenteils in der Organisation eines Unternehmens operative und strategische Bereiche getrennt. Demnach fand sich etwa klassisches Recruiting im operativen Personalwesen, Personal- und Organisationsentwicklung jedoch meist im Stabsbereich wieder. Diese Trennung beruhte nicht nur auf praktischen Erwägungen, sie ging bis auf humanistische Grundüberzeugungen zurück. Heute ist man bezogen auf die Entwicklungsmöglichkeiten der Mitarbeiter nicht mehr so euphorisch, was auch an einem Wechsel vom milieutheoretischen Paradigma, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1990er Jahre verbreitet war, hin zu einer mehr evolutionsbiologisch geprägten, hereditären Sichtweise liegt. Die heute verbreitete Annahme, Versäumnisse in der Personalauswahl ließen sich durch Personalentwicklungsmaßnahmen nur schwer korrigieren, hat dabei mehrere Facetten.
Zum einen spielt die Berücksichtigung von Folgekosten eine Rolle. So werden beispielsweise bei einem höheren Verantwortungsbereich einer Führungskraft auch Fehlentscheidungen von größerer Tragweite sein. Das kann sich auf die Geschäftsstrategie eines Unternehmens ebenso beziehen wie auf die Motivation der geführten Mitarbeiter. Falsche Personalentscheidungen beinhalten nicht nur verschwendete Werbungs-, Auswahl- oder Fluktuationskosten. Im Falle von Führungskräften betrifft das u. U. auch demotivierte Mitarbeiter und damit Produktivitätsverluste ganzer Abteilungen. Zum anderen bleibt strittig, ob Versäumnisse in der Personalauswahl durch entsprechende Entwicklungsmaßnahmen, sei es durch Training oder Coaching, überhaupt aufgefangen oder sogar korrigiert werden können.
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