So eine Entscheidung braucht Zeit, lasst ihr ein wenig Zeit. Um ihres Namens willen.
»Wir brauchen wirklich endlich einen Namen für sie«, sagt er, »gibt’s noch Nuggets?«
DAS HEISSBEGEHRTE ZIMMER 2
Tag: 2
Datum: 26.12.
Sauerstoffsättigung: 93–100
Puls: 120–150
Gewicht: 1550 Gramm
Anmerkungen: Frühchen hat zweimal Bäuerchen gemacht. Dr. Elijahu hat angeordnet, eine Mahlzeit auszulassen
Schwester Slocombe hört Schneider schon an den Waschbecken im Eingangsbereich – Spülen, Schäumen und so fort. Sie sagt: »Das Frühchen ist auf Zimmer 2 verlegt worden.« Auch wenn Schwester Slocombe andeutet, dass das ein Fortschritt ist, erklärt sie ihr nicht, inwiefern es einer ist, schiebt sie stattdessen vor sich her.
Unterwegs kommen sie am Ruheraum vorbei. Auf dem zerrupften Sofa in der Mitte fläzen sich zwei Frauen und tuscheln miteinander. Die eine hat langes braunes Haar und einen Körper mit lauter spitzen Winkeln. Die zweite hat Locken und Sommersprossen, sie glänzt wie ein Gemälde von Gustav Klimt. Jetzt starren sie beide an. Sie tragen Jeans, dazu schwarze Pullis. Schneider dagegen hat nicht eine Sekunde darüber nachgedacht, etwas anderes als das gelbe Krankenhaushemd anzuziehen, obwohl man ihr von zu Hause Kleider mitgebracht hat. Dafür, dass sie bestimmt erst vor Kurzem geboren haben, sehen die zwei ziemlich dünn aus. Sie selbst kommt sich riesig vor. Schneiders Glieder sind beweglich, verteilen sich im ganzen Raum wie auf einem kubistischen Gemälde von Picasso. Sollen sie doch.
Sie betritt Zimmer 2. Anders als Zimmer 1 ist es ein großer Saal, lang und rechteckig und mit viel mehr Inkubatoren darin. Dreißig insgesamt sind entlang der Wände angeordnet. Jeder ist mit einem Monitor und einer eigenen kleinen Kommode ausgestattet. Schneider, die Tochter von liegt gleich neben der Eingangstür. Zu ihrer Überraschung erkennt sie ihre Tochter, obwohl sie sich Gesichter noch nie gut merken konnte. Sie zieht einen leeren Stuhl aus der Ecke zu sich heran und hält nach einer Schwester Ausschau. Das Baby muss dringend aus dem offenen Brutkasten herausgehoben werden. Aber überall sind da diese Kabel und Schläuche. Man muss genau wissen, was man tut, wenn man ihr helfen will. Sie ist voller Eifer, sie will endlich aktiv werden, hat aber Angst, aus Versehen ein wichtiges Kabel herauszuziehen. Oder einfach überhaupt Angst.
Eine neue Schwester, die sie noch nicht kennt, schreitet durch das Zimmer. Sie sieht vornehm aus, wie eine Prinzessin, hält sich absolut gerade, ein unsichtbares Buch ruht auf ihrem Kopf. Die Prinzessin faltet eine Decke zu einem akkuraten Rechteck zusammen, breitet sie über einem Baby aus, rückt ihm das gestrickte, winzig kleine Wollkäppchen auf dem Köpfchen zurecht und platziert einen kleinen Schnuller in die linke obere Ecke der Matratze. Drei säuberlich hergerichtete Bettchen liegen schon hinter ihr. Die Schwester ist fast bei Schneider, da piepst es plötzlich aus einer entfernten Ecke. Die Schwester geht zu dem Bettchen, packt ein winziges Füßchen und schlägt mit dem Mittelfinger auf die Ferse. Das Piepen hört auf. Schneider wartet immer noch auf die Prinzessin, als plötzlich aus der Lüftung über ihr blaue Vögel herabfliegen, sich auf ihr Handgelenk setzen und ein Lied trällern. Sie blättert in dem Ringbuch, das am Bettchen ihrer Tochter baumelt. Auf der letzten Seite steht in Schreibschrift: »9:00 Frühchen hat zweimal Bäuerchen gemacht. Dr. Elijahu hat angeordnet, eine Mahlzeit auszulassen.« Das »u« in Elijahu endet mit einem Schnörkel.
Warum hat sie das halb gefüllte Reagenzglas nicht dabei? Warum? Das wäre bestimmt nützlich gewesen. Seitdem hat sie nichts mehr rausbekommen. Die Milch ist verschüttet. Die Zeit ist reif, über sie zu weinen.
Was sie jetzt tun muss, ist das Letzte, was sie jemals freiwillig tun würde: Sie muss um Hilfe bitten. Normalerweise erstarrt Schneider, wenn sie sich in irgendeiner Weise bedürftig fühlt, und redet sich ein, dass sie nichts und niemanden braucht. Jetzt aber rafft sie sich auf, schleppt sich zu Schwester Prinzessin, nimmt das hilfreiche Accessoire, die frischen, herunterhängenden Tuben in ihrer Hand, gern entgegen.
»Entschuldigung? Wissen Sie vielleicht, was ich mit der Pumpe machen muss?«
Schwester Prinzessin erwidert: »Wer sind Sie denn?«
»Schneider«, antwortet sie.
»Ah«, sagt die Prinzessin mit zitronensaurer Stimme, »wie gut, dass Sie endlich gekommen sind.« Es ist eine Schuldzuweisung. Als hätte die Prinzessin die ganze Zeit hier auf sie gewartet. Schneider, die Mutter von würde gerne erwidern, dass sie schon einige Male hier war, dass sie gerade erst einen Kaiserschnitt hinter sich hat. Wie lange mag es her sein, dass sie sich eine solche Schelte verdient hatte, als würde ihre Mutter ein Hühnchen mit ihr rupfen? Aber sie ist tatsächlich noch nicht auf der Station gewesen, wenn die Prinzessin Schicht hatte. Die Prinzessin ruft nach Schwester Olga. Schwester Olga steht am Eingang inmitten eines Bergs aus Karton und Plastiktüten und beugt sich, wie es aussieht, über eine Computerstation mit einem alten Telefonhörer. Sie hält ein Buch in der Hand und drückt alle möglichen Tasten. »Komm mal kurz rüber, Olga, und weise Schneider ins Abpumpen ein.« Olgas stacheliger Kopf taucht wieder hervor, sie drückt auf den Bildschirm, der kurz rosa aufleuchtet, einen Piepston von sich gibt und dann sofort wieder schwarz wird. Schwester Olga drückt noch einmal auf den Bildschirm, und dieses Mal piepst er nur.
»Pizdets, verdammt«, nuschelt Schwester Olga und kommt dann zu ihnen.
Schwester Olga geht flinken Schritts voran, Schneider hüpft hinter ihr her. Kurz bevor sie die Türklinke drückt, schaut Schwester Olga auf und sagt: »Sie haben ja noch das gelbe an.«
»Gelbes was?«
»Das gelbe Krankenhaushemd, das ist nur für hier.«
Niemand hat ihr gesagt, dass sie mit dem Krankenhaushemd nicht rausgehen darf.
»Wollen Sie uns noch mehr Arbeit machen? Müssen Sie jedes Mal, wenn Sie sich bepinkeln, neues Hemd anziehen? Sind wir zum Wäschewaschen hier oder für die Frühchen?« Schwester Olga schält sie aus dem Hemd, faltet es zusammen und legt es in ihre Kommode. Dann führt sie sie in einen Korridor, von dem sie gar nicht wusste, dass er existiert. Dort finden sich kleine, mit blaugrünem Vorhang verhängte Kabinen, von denen einige zugezogen sind. Die Vorhänge sind mit einem lila- und rosafarbenen, gefährlich aussehenden Teddybären verziert, und in jeder Kabine steht ein großer Sessel. Im Hintergrund ist ein tiefes, rhythmisches Summen zu hören, wie das Summen oder der Gesang von Bienen. Der Bienenstock muss aufgeräumt und sauber gemacht, Mahlzeiten müssen zubereitet und die Babys versorgt werden.
Am Ende des Korridors befindet sich eine etwas größere Kabine mit einer Matratze und einer zerwühlten Decke auf dem Boden. Jemand hat ein halbes Sandwich im Sessel liegen gelassen. Dem Geruch nach ein Thunfisch-Sandwich. In der Ecke steht ein Heizkörper, daneben ein großer, funkelnder Apparat aus Metall mit blauen Schrauben. Es scheint, als schwenkte sie nur kurz die Hände, doch in Wirklichkeit ist es ein komplizierter Bewegungsablauf, mit dem Schwester Olga das Sandwich in den Mülleimer wirft, Schneider in den Sessel drückt, eine Flasche an dem Apparat befestigt und dann einen Schlauch auf der einen Seite mit dem Hahn, auf der anderen mit einer durchsichtigen Plastikbrustwarze verbindet. Die Plastikbrustwarze setzt Schwester Olga auf Schneiders echte, rosafarbene Brustwarze, das Loch im Plastik sitzt genau auf der Spitze. Dann drückt Schwester Olga auf einen roten Knopf. Ein Hämmern wie von rotierenden Zahnrädern ist das Signal für einen sofort einsetzenden, unfassbar starken Schmerz. Eine spitze Nadel stößt in die Mitte der Brustwarze, und dann tiefer hinein, bis in die Blutbahn, und noch tiefer, bis sie die graue Hirnmasse durchsticht wie einen Ballon. Es folgt ein kurzer Moment der Erleichterung, eine Erlösung, bevor die Nadel ein zweites Mal zusticht. Sie schaut hinunter auf den Plastikschlauch an ihrer Brust, doch von einer langen Metallnadel, die diesen unsagbaren Schmerz erklären könnte, fehlt jede Spur. Nur ein Vakuum hängt da dran. Die absolute Leere. Schwester Olga sagt mit flacher Stimme: »Bleiben Sie paar Minuten sitzen, so lange, bis Milch kommt. Wir brauchen Milch.«
Читать дальше