So mancher Sammler, der wie ich jetzt Mords Flanke begutachtete, überschätzte die Tiefe von Mords Schlaf und fand sich hochgehoben, haltlos, und zu Tode stürzen … ohne dass Mord es bemerkte, der wie ein Felsbrocken über sein Jagdgebiet dahinglitt, die Stadt, die sich diese Beteichnung noch nicht wieder verdient hatte. Und so riskierte ich nicht viel mehr als Erkundungstouren entlang seiner Flanke. Seether. Theeber. Mord. Er hatte viele Namen, die denen, die sie laut aussprachen, wundersam erschienen.
Schlief Mord also wirklich, oder hatte er in seiner verdorbenen, giftigen Abfallhalde von Kopf einen Trick ausgeheckt? Es war nicht leicht zu beurteilen. Ermutigt von seinem Schnarchen, das sich als ein gigantisches Erdbeben quer über den ganzen Atlas seines Körpers manifestierte, kletterte ich weiter auf seine Hüfte zu, während andere Sammler mich vom Boden aus wie ein Versuchskaninchen beobachteten. Und da stieß ich zufällig auf Borne, der sich im braunen, rauen Seetang von Mords Pelz verfangen hatte.
Borne summte leise vor sich hin, die halb geschlossene Öffnung auf der Oberseite wie ein Mund, dessen Muskelstränge sich ständig zusammenzogen und weiteten. Noch war Borne ein »es«, kein »er«.
Je näher ich kam, desto deutlicher ragte Borne aus dem Pelz heraus, wurde immer mehr zu einer Kreuzung aus Seeanemone und Tintenfisch: eine glatte Vase mit sich wellenden Farben, die von dunkelviolett über tiefblau bis meergrün changierten. Vier vertikale Grate zogen sich über die warme und pulsierende Haut, deren Textur glatt war wie die eines vom Wasser geschliffenen Steins, aber etwas gummiartig. Es roch nach Strandhafer an faulen Nachmittagen im Sommer, Meersalz und unterschwellig nach Passionsblumen. Erst viel später verstand ich, dass es für einen anderen anders gerochen, ja vielleicht sogar eine andere Form angenommen hätte.
Es sah nicht nach etwas Essbarem aus, und es war kein Erinnerungskäfer, aber auch kein Abfall, deshalb nahm ich es mit. Ich glaube, ich konnte gar nicht anders.
Mords Körper bebte, hob und senkte sich im Takt seines Atems, und ich stand mit angewinkelten Knien da, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Er schnarchte und zuckte, als würde er einen psychotischen Traum ausagieren. Seine faszinierenden Augen – so weit und schwarzgelb und vernarbt wie ein Meteor oder die gesprungene Kuppel des Observatoriums im Westen – waren fest geschlossen, der riesige Schädel nach Osten ausgestreckt, ohne sich um mögliche Gefahren zu kümmern.
Und hier war Borne, wehrlos.
Die anderen Sammler, viele von ihnen Befürworter einer unsicheren Waffenruhe, begannen ermutigt, an Mord hochzuklettern, sich ins Unterholz seines verdreckten, heiligen Pelzes zu wagen.
Borne schlug an meiner Brust wie ein zweites Herz.
»Borne.«
Namen von Menschen, von Orten bedeuteten so wenig, dass wir aufgehört hatten, andere mit der Suche danach zu belästigen. Die Karte der alten Welt schien von einem grotesken Märchen heimgesucht, das, wenn man es erzählte, nicht nach Worten klang, sondern nach Geräuschen als Folge einer Gräueltat. Zwischen den Trümmern der Erde unsichtbar zu bleiben, war alles, was ich suchte. Und ein gutes Paar Stiefel für die Zeit, wenn es kalt wurde. Und eine alte Dose Suppe, halb vom Schutt begraben. Diese Dinge bedeuteten Glückseligkeit; daneben blieben Namen kraft- und bedeutungslos.
Und trotzdem nannte ich ihn Borne.
Man kann es nicht anders sagen: Wick, mein Partner und Liebhaber, war ein Drogendealer, und die Droge, die er verkaufte, war so schrecklich und so schön und so traurig und so süß wie das Leben selbst. Die Erinnerungskäfer, die Wick modifizierte oder aus Teilen herstellte, die er der Firma gestohlen hatte, brachten einem nicht nur etwas bei, wenn man sie sich ins Ohr schob, sondern konnten auch Erinnerungen löschen und hinzufügen. Menschen, die die Gegenwart nicht ertrugen, steckten sie sich ins Ohr, um die glücklicheren Erinnerungen anderer wachzurufen, aus lange vergangenen Zeiten und an Orte, die nicht mehr existierten.
Als ich Wick kennenlernte, war die Droge das Erste, das er mir anbot, was ich aber sofort ablehnte, weil ich die Falle darin witterte, auch wenn es wie ein Ausweg aussah. Wenn man sich den Käfer ins Ohr steckte, wuchsen inmitten einer Explosion von Minze und Limone phantastische Visionen von Orten, die es – wie ich hoffte – nicht gab. Der Gedanke, dass ein solcher Zufluchtsort tatsächlich existierte, war zu grausam. Er konnte dumm oder unvorsichtig machen.
Nur der gequälte Ausdruck auf Wicks Gesicht, seine Reaktion auf meinen Widerwillen, ließ mich bleiben und weiter mit ihm reden. Ich wünschte, ich hätte den Grund seines Unbehagens schon damals erfahren und nicht erst so viel später.
Ich legte die Seeanemone auf den klapprigen Tisch zwischen unseren Stühlen. Wir saßen auf einem der vermoderten Balkone, die aus einer glatten Steinfassade ragten und mich dazu inspiriert hatten, unseren Zufluchtsort »Balcony Cliffs« zu nennen. Der eigentliche Name des Gebäudes auf dem verrosteten Schild in der halb verfallenen, unterirdischen Lobby war nicht zu entziffern.
Hinter uns lag das Labyrinth, in dem wir lebten, und tief unter uns – verborgen durch einen Tarnschleier, den Wick angelegt hatte, um uns neugierigen Blicken zu entziehen – wand sich der verseuchte Fluss, der um den größten Teil der Stadt floss. Ein Gebräu aus Schwermetallen und Öl und Abfällen, das toxische Dämpfe verbreitete und uns daran erinnerte, dass wir vermutlich an Krebs oder Schlimmerem sterben würden. Hinter dem Fluss erstreckte sich eine Brache aus Buschland. Dort gab es nichts Gutes oder Gesundes, trotzdem tauchte an diesem Horizont manchmal noch jemand auf, wenn auch sehr selten.
Ich war an diesem Horizont aufgetaucht.
»Was ist das für ein Ding?«, fragte ich Wick, der sich ausführlich ansah, was ich mitgebracht hatte. Es pulsierte und leuchtete auf, harmlos und praktisch wie eine Lampe. Aber die Firma hatte die Stadt in der Vergangenheit nicht zuletzt damit terrorisiert, ihr Biotech auf den Straßen zu testen. Die ganze Stadt war zu einem gewaltigen Labor geworden und inzwischen halb zerstört, genau wie die Firma.
Wick lächelte das dünne Lächeln eines dünnen Mannes, es war mehr ein Zucken als ein Lächeln. Er hatte einen Arm auf den Tisch gelegt und das linke Bein über das rechte geschlagen, trug eine weit geschnittene Leinenhose, die er eine Woche zuvor gefunden hatte, und ein weißes Hemd, das vom langen Tragen gelb geworden war. Er sah beinahe entspannt aus. Aber ich wusste, es war nur eine Pose, die er einnahm, um der Stadt und auch mir einen Gefallen zu tun. Risse in der Hose. Löcher im Hemd. Jene so gern ausgeblendeten Details, die eine andere, genauere Geschichte erzählen.
»Was ist es nicht? Das muss die erste Frage sein«, sagte er.
»Also dann: Was ist es nicht?«
Er wollte sich nicht festlegen und zuckte mit den Schultern. Wenn wir über Funde sprachen, stand manchmal eine Wand zwischen uns, eine Reserviertheit, die mir nicht gefiel.
»Soll ich später noch mal wiederkommen? Wenn dir mehr nach reden ist?«, fragte ich.
Meine Geduld hatte im Laufe der Zeit nachgelassen, was nicht sehr freundlich war, denn er brauchte sie jetzt mehr als früher. Ihm ging das Rohmaterial für seine Kreationen aus, und außerdem setzte ihn unter Druck, dass seine Konkurrenten – besonders die Magierin, die den ganzen westlichen Teil der Stadt unter ihre Kontrolle gebracht hatte – auf sein Territorium und seine Gedanken übergriffen, Ansprüche erhoben. Sein attraktives Gesicht unter dem feinen, blonden Haar mit dem spitzen Kinn und den hohen Wangenknochen war dabei, sich aufzuzehren, wie eine Kerze von einer Flamme.
»Kann es fliegen?«, fragte er schließlich.
Читать дальше