Die Streitereien kamen erst später, als es ernst wurde. Aber ich bettelte nicht. Ich bat ihn nicht zu bleiben. Ich konnte einfach nicht. Vielleicht glaubte er sogar, dass sein Fortgehen unsere Ehe retten, dass es uns einander wieder näher bringen würde. Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung. Es gibt einfach Sachen, in denen war und bin ich nicht gut.
Aber als ich neben der toten Psychologin stand und hinaus aufs Meer schaute, wusste ich, dass das Tagebuch meines Mannes auf mich wartete, dass ich bald wissen würde, welche Art Albtraum er hier erlebt hatte. Und ich wusste auch, das ich ihm seine Entscheidung immer noch verübelte … aber trotzdem wusste ich auch, irgendwo tief in meinem Herzen, dass ich inzwischen sicher war, an keinem Ort lieber sein zu wollen als in Area X.
Ich hatte zu viel Zeit vertrödelt und musste jetzt durch die Dunkelheit zurück zum Basislager. Wenn ich ein gleichmäßiges Tempo durchhielt, konnte ich es bis Mitternacht schaffen. Angesichts der Umstände, unter denen die Vermesserin und ich auseinandergegangen waren, konnte es durchaus von Vorteil sein, zu unerwarteter Stunde zurückzukommen. Auch warnte mich irgendetwas davor, über Nacht im Leuchtturm zu bleiben. Vielleicht war es einfach das Unbehagen, das mich angesichts der ungewöhnlichen Verletzungen der Psychologin befallen hatte, oder möglicherweise auch ein Gefühl, dass etwas anderes diesen Ort bewohnte; jedenfalls machte ich mich kurz darauf mit meinem Rucksack voller Vorräte und dem Tagebuch meines Mannes auf den Weg. Hinter mir ragte eine zunehmend düstere Silhouette auf, die nicht länger ein Leuchtturm, sondern eher eine Art Reliquienschrein war. Als ich einen Blick zurückwarf, sah ich einen dünnen, grünen Lichtschein aufsteigen, der von den Schattenlinien der Dünen eingerahmt wurde, was mich nur weiter anstachelte, möglichst schnell Abstand zu gewinnen. Es war die infizierte Wunde der Psychologin, es kam von der Stelle am Strand, die heller leuchtete als zuvor. Eine Lebensform, die so schnell wucherte und dabei ein grelles Licht verströmte, war nichts, was ich näher untersuchen wollte. Ich erinnerte mich an eine weitere Formulierung in ihrem Tagebuch: Ein Feuer wird kommen, das deinen Namen kennt und im Angesicht der alles erdrückenden Frucht wird seine dunkle Flamme dich vollständig in Besitz nehmen .
Eine Stunde später war der Leuchtturm in der Nacht verschwunden und mit ihm das Fanal, zu dem die Psychologin geworden war. Der Wind frischte auf, die Dunkelheit wurde tiefer. Das weiter und weiter entfernte Rauschen der Wellen klang, als würde man einer Unterhaltung lauschen, die Unheil versprach. Ich ging im Licht einer dünnen Mondsichel so geräuschlos wie möglich durch das verlassene Dorf und wagte es nicht, meine Taschenlampe einzuschalten. Über die sichtbaren Trümmerformen in den Zimmern hatte sich eine Art Dunkelheit gelegt, die sich deutlich vom Nachtdunkel abhob, und in der völligen Stille hatte es den Anschein, als würde sich irgendetwas bewegen. Ich war froh, sie bald hinter mir zu lassen und zu dem Teil des Weges zu kommen, wo das Röhricht sowohl den Kanal zur Seeseite als auch die kleinen Seen zur Linken fest im Griff hatte. Dann dauerte es nicht mehr lange, bis ich zum schwarzen Wasser und den Zypressen kam, Vorhut der wetterharten Kiefern.
Ein paar Minuten später setzte das Stöhnen und Wehklagen ein. Einen Moment lang dachte ich, es sei nur ein Echo in meinem Kopf. Dann hielt ich abrupt inne und lauschte. Was auch immer wir jeden Abend bei Einbruch der Dämmerung gehört hatten, es war wieder da. Und in meinem Eifer, so schnell wie möglich vom Leuchtturm wegzukommen, hatte ich völlig vergessen, dass es irgendwo im Schilf lebte. Aus der Nähe hatte der Klang etwas tief Gutturales, war voller wirrer Qual und Wut. Etwas zutiefst Menschliches und doch Unmenschliches, so dass ich zum zweiten Mal, seit ich Area X betreten hatte, an Jenseitiges dachte. Die Quelle der Laute lag vor mir, landeinwärts, sie drangen durch das dicke Schilf, das das Wasser vom Pfad fernhielt. Ich schien unmöglich da vorbeikommen zu können, ohne dass es mich hörte. Und was dann?
Schließlich beschloss ich, einfach weiterzulaufen. Ich fingerte nach der kleineren meiner beiden Taschenlampen und ging nach dem Einschalten unwillkürlich tief gebückt weiter, weil ihr Schein weit über das Schilf hinaus sichtbar war. In dieser eher linkischen Haltung bewegte ich mich vorwärts, in der andere Hand die Pistole, äußerst wachsam, was die Richtung betraf, aus der die Geräusche kamen. Noch waren sie ein Stück weit entfernt, aber wie ich bald feststellte, kam etwas langsam näher, bahnte sich einen Weg durch das Schilf und hörte dabei nicht auf, diese entsetzlichen Laute von sich zu geben.
Die Minuten vergingen, und ich kam gut voran. Plötzlich stieß etwas an meinen Stiefel und blieb klatschend daran hängen. Ich richtete die Taschenlampe auf den Boden – und fuhr keuchend zurück. Es war unglaublich, aber aus der Erde schien ein menschliches Gesicht aufzutauchen. Doch als nichts weiter passierte, leuchtete ich es wieder an und sah, dass es eine Art Sprühmaske aus Haut war, fast durchscheinend, die auf ihre Art an den abgeworfenen Panzer eines Pfeilschwanzkrebses erinnerte. Ein breites Gesicht, mit dem Anflug einiger Pockennarben auf der linken Wange. Die Augen waren leer und starrten mich an. Ich hatte das Gefühl, ich müsste mich an diese Gesichtszüge erinnern – und dass es sehr wichtig sein könnte –, aber so vom Körper getrennt konnte ich es nicht.
Der Anblick dieser Maske brachte mir ein gewisses Maß jener Gelassenheit zurück, die mir während der Konversation mit der Psychologin abhanden gekommen war. Wie fremdartig das auch schien, ein abgeworfener Hauptpanzer war – selbst wenn er an ein menschliches Gesicht erinnerte – ein lösbares Mysterium. Jedenfalls eines, das die verstörende Vorstellung einer vorrückenden Grenze und die zahllosen Lügen, die Southern Reach uns aufgetischt hatte, in den Hintergrund drängte.
Als ich niederkniete und meine Taschenlampe nach vorne richtete, sah ich noch mehr Überbleibsel einer Häutung: eine lange Spur hautartiger Abfälle, verschorfte Hautfetzen. Vielleicht würde ich alsbald auf das treffen, was diese Substanz abgestoßen hatte, und ebenso eindeutig war dieses laut stöhnende Wesen menschlich oder war es zumindest einmal gewesen.
Ich dachte wieder an das verlassene Dorf, die so fremden Augen der Delfine. Das alles warf Fragen auf, deren Beantwortung ich mit der Zeit vielleicht am eigenen Leibe erfahren würde. Aber die wichtigste Frage war im Augenblick, ob das Ding, das sich da gehäutet hatte, eher träger oder aktiver werden würde. Das hing ganz von der Gattung ab, und in Bezug auf diese war ich kein Experte. Einer neuerlichen Begegnung wäre ich auch nicht mehr gewachsen, das spürte ich deutlich, obwohl es inzwischen für einen Rückzug zu spät war.
Ich ging weiter und kam bald zu der Stelle, wo das Schilf linksseitig dem Erdboden gleichgemacht war und sich ein knapp ein Meter breiter Pfad ins Dunkel zog. Auch die Hautfetzen, wenn es denn welche waren, verloren sich im Dunkel. Ich leuchtete mit der Taschenlampe den Pfad entlang und konnte sehen, dass er nach etwas dreißig Metern einen scharfen Rechtsknick vollführte. Was hieß, dass dieses Lebewesen vor mir war, irgendwo im Schilf, und vielleicht einen Bogen schlagen und mir den Weg zurück ins Basislager versperren würde.
Das Knacken und Rascheln der brechenden Schilfrohre war lauter geworden, wie auch das Stöhnen. Ein schwerer Moschusgeruch hing in der Luft.
Ich hatte noch immer kein Verlangen, zum Leuchtturm zurückzukehren, also beschleunigte ich meine Schritte. Inzwischen war die Dunkelheit so tief, dass ich nur ein paar Schritte voraus sehen konnte, wobei die Taschenlampe kaum noch eine Hilfe war. Ich hatte das Gefühl, in einem Tunnel im Kreis zu laufen. Das Stöhnen wurde immer lauter, und ich konnte nicht mehr feststellen, aus welcher Richtung es kam. Der Geruch war zu einem spezifischen Gestank geworden. Der Boden begann unter meinem Gewicht leicht nachzugeben, und ich wusste, dass es nicht mehr weit bis zum Wasser sein konnte.
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