Frau Hartwig lebt auf dem Land, aber für Beschaulichkeit bleibt kaum Zeit. Sie ist eine streitbare Bayerin voller Tatendrang. Seit Jahren deckt sie die Machenschaften einer miteinander verfilzten Clique aus Politikern, Lobbyisten und Vertretern der Gesundheitsindustrie auf, zeigt, wie und wohin sie unser Gesundheitssystem manipulieren. Sie wird laut, sie kriegt einen Zorn, sie verpfändet sogar ihr Haus, um das Münchner Olympiastadion zu mieten und das alles öffentlich anzuprangern. Sie ist vor dramatischen Irrtümern zwar nicht gefeit, lässt sich aber nicht vom eigentlichen Ziel abbringen. Ihr Kampfruf lautet: Zivilcourage ist Bürgerpflicht! Was sie will, ist Demokratie und Bürgergesellschaft. In leidenschaftlichem Tonfall und bayerisch gefärbter Sprechweise erzählt sie uns ihre Erfahrungen:
»Ja, ich bin ein Gerechtigkeitsfanatiker, wo ich echt sauer werde, das sind Doppelmoralisten, aber davon später. Und ich sag Ihnen gleich, ich bin keine Patientenvertreterin! Das möchte ich gleich klarstellen, das hätten manche gern, um mich zu entschärfen! Ich vertrete Bürgerrechte. Klipp und klar! Das ist ganz was anderes. Für mich ist das, was passiert im Gesundheitswesen, etwas ganz Grundsätzliches, das ist eins der wichtigsten gesellschaftlichen Themen. Aber aufgepasst: Wenn wir von ›Gesundheitswesen‹ bzw. von ›Gesundheitssystem‹ reden, dann meinen wir nicht nur Ärzte, Krankenhäuser und Krankenversicherungen. Wir reden von einem aufgeblähten Kosmos an ›Dienstleistern‹, von den gewaltigen Megabürokratien der Kassen und kassenärztlichen Vereinigungen, von Verwaltungsbeamten, von Apotheken, Labors, Instituten, von Pflege-, Service- und Reha-Einrichtungen, Krankenhäusern und Groß-Kliniken, Zulieferern und vor allem von einer alles durchdringenden gewaltigen Pharmaindustrie. Die Triebfeder von dem Ganzen ist das Geld. Aber das wirkliche Ausmaß von diesem Kosmos habe ich erst allmählich begriffen.
Angefangen hat’s mit einer Angina und einem Hausarztbesuch. Als er mal kurz rausmusste, habe ich zufällig einen Blick werfen können auf seinen Computer, und da stand als Laufband: ›Die veranschlagte Zeit für diesen Patienten ist abgelaufen.‹ Ich habe den Arzt dann zur Rede gestellt, und es war ihm irgendwie peinlich, er redete was vom ›engen Budget‹. Das wollte er aber dann so doch nicht stehen lassen, und eines Abends kam er mit vier Kollegen zu mir nach Hause, und sie haben mir ihre Probleme auf den Tisch gelegt, erzählt, dass sie furchtbar unter Druck stehen, dass sie eigentlich für ihre Arbeit kaum noch was kriegen, dass sie pleitegehen und dass es aus diesem Grund demnächst keine Hausärzte mehr geben wird. Ich war der typische uninformierte Kassenpatient, habe denen das damals natürlich alles geglaubt und mich dermaßen empört darüber, dass ich beschloss, etwas dagegen zu unternehmen. Wir sind 70 Millionen Beitragszahler, dachte ich, wir wissen nicht, was mit unserer Kohle passiert, das können wir uns doch nicht bieten lassen!
Sie haben mich eingeladen, und so bin ich erst mal eineinhalb Jahre, als einzige Nichtmedizinerin, zu den Treffen des Hausärzteverbands gegangen – auch zu den Protestveranstaltungen – und habe mir angehört, was die Ärzte so zu sagen haben. Habe auch sehr viel recherchiert und mich sachkundig gemacht. Und ich hatte all die Jahre viel zu tun mit Ärzten aus der Funktionärsszene, den Verbänden, mit Ärzten, die sich berufspolitisch auseinandergesetzt haben. Und erst allmählich fiel mir irgendwie auf, sie streiten eigentlich alle um des Kaisers Bart. Es ging immer nur darum, welche Leistungen bringen wir und was bekommen wir dafür bezahlt. Aber ich habe gedacht, diese Haltung ist ein Ergebnis der Systemfehler. Ich dachte, was hier gebraucht wird, ist eine informierte Bürgerbewegung, zur Unterstützung, aber auch damit die Ärzte mal lernen, über ihren Tellerrand zu gucken! Eine Woche später habe ich eine Initiative gestartet und mithilfe meiner Webmasterin die Homepage www.patient-informiert-sich.deins Netz gestellt.
Meine Überlegung war, Ärzte und Patienten kämpfen gemeinsam. Und im April 2007 haben sie mich eingeladen zu einer Demonstrationsveranstaltung nach Nürnberg. Ich hasse Nürnberg! Und dann auch noch Meistersingerhalle! 2.000 Ärzte haben demonstriert, weil sie zu wenig Geld kriegen und fertiggemacht werden. Da war mein erster Auftritt. Ich hab mich am Mikrofon zu Wort gemeldet, quasi für unsere Patienteninitiative, und habe gesagt, wir Patienten, wir Beitragszahler, werden nun wach, wir legen jetzt den Finger in die Wunde und sagen Halt! Stopp! Die Macht der Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen muss begrenzt werden, wir lassen es nicht zu, dass die Hausärzte aussterben! Ich war voller Idealismus und habe mich blenden lassen von den Ärzten. Das passiert mir heute nicht mehr!
Meine Wut gegen die Masse der niedergelassenen Ärzte kam, als mir klar wurde, dass sie selber schuld sind, dass sie freiwillig mitmachen, dass sie ihr eigenes Denken, Fühlen und ihre Zivilcourage opfern für ihren ganz kleinen Vorteil, für ihr ganz kleines Sicherheitsdenken. Ich habe zum ersten Mal wirklich kapiert, wie das unter Hitler funktioniert hat. Ich musste aber das ganze komplizierte System erst mal durchschauen lernen. Und ich habe begriffen: Was draufsteht, muss nicht drin sein. Beispielsweise beim ›freien niedergelassenen Arzt‹. Den gibt es nämlich gar nicht. Er arbeitet in einer Scheinselbständigkeit, die er selber wählt. Es funktioniert so, dass er jeden Monat eine Abschlagzahlung kriegt. Das ist seine Sicherheit, auf die er allergrößten Wert legt. Wenn er die hat, ist ihm vollkommen wurscht, wie das System eigentlich funktioniert. Und da haben wir ein Problem!
Ein anderes Problem ist die Kassenärztliche Vereinigung, kurz KV. Die Macht der KV kommt daher, dass die Politik sich ganz wunderbar zurückgelehnt und gesagt hat: Wir machen zwar die Rahmenbedingungen, aber das eigentlich Brutale, das macht mal ihr! Damals, als Hitler drankam, gab’s bestimmte Strukturen der KV, und die haben sich bis heute nicht geändert.« ( Die KV wurde 1931 in Berlin im Zuge der Notverordnungen gegründet und 1933 zur KV Deutschland. Hinfort starke Verflechtung mit dem NS-Herrschafts- und Gesundheitssystem, u.a. entzog sie den jüdischen Kassenärzten ihre Niederlassung und damit ihre Existenzgrundlage, was die nichtjüdischen Kassenärzte billigend in Kauf nahmen. Anm. G.G. ) »Auf der ganzen Welt gibt es keine KV, nur in Deutschland! Als offizielle Standesorganisation ist sie einerseits ein Instrument, um die Ärzte ›führen‹ zu können, aber in der Hauptsache ist sie ein Machtinstrument, denn sie ist der direkte Partner von den Kassen. Die Kassen zahlen das Geld an die KV, und die sitzen dann praktisch auf diesem dicken Geldsack und haben die Macht des Verteilens. Und ums Verteilen geht der ganze Hickhack!
Was darüber aber vergessen wird, ist der Patient, der Beitragszahler. Und darum geht’s. Deshalb heißt auch mein neues Buch: ›Geldmaschine Kassenpatient‹. Der ist nämlich die sprudelnde Quelle, er zahlt ein ins Solidarsystem. ›Einer für alle, alle für einen.‹ Aber wir müssen uns mal fragen, funktioniert das überhaupt noch? Ich sage, wir haben kein Solidarsystem mehr! Der Staat bedient sich bei unseren Beiträgen und verwendet das Geld für andere Zwecke. Aus diesem Topf bedienen sich mittlerweile alle, nur der Patient bleibt übrig und steht da als Depp! Wenn er krank ist, muss er sich entschuldigen, dass er was braucht und Kosten verursacht. Er wird nur so lang gut bedient, solang aus seiner Krankheit Geld zu ziehen ist. Und das wird immer knapper, wenn einer krank ist, dazu kommt dann noch eine Mehrwertsteuer von 19 Prozent auf Arzneimittel, die sackt der Finanzminister ein – auf Katzenfutter sind’s nur 7 Prozent. In keinem anderen Land der Welt ist die Umsatzsteuer auf Arzneimittel dermaßen hoch! Aber ich soll’s Maul halten und zahlen. Ich finanziere meinen eigenen Untergang als Patient. Die Kassenpatienten sind die rechtlosen Finanziers dieses Systems, das Melkvieh! Und die Ärzte haben damit kein Problem, solang sie ihre Kohle kriegen. Lieber biedern sie sich an, zum Beispiel bei ihrer KV.
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