Mitgefühl, sich in andere hineinversetzen und sich selbst in Worten und Emotionen ausdrücken zu können, wird Jungen dagegen selten nahegelegt. Der Soziologe und Familientherapeut Paul Suer fordert deshalb, dass wir unser Bild davon, wie Jungen zu sein haben, korrigieren. Ein neues, sozusagen ›menschliches‹ Jungenbild könne so aussehen: »Jungen, die weinen, sind authentisch. Sie leben ihre Gefühle und sind mit sich im Einklang. Jungen, die ihre weichen Seiten zeigen und leben, sind liebenswert. Sie finden leichter Freund*innen und werden besser verstanden. Jungen, die ihren Körper achten, gehen sorgfältig mit ihm um und schützen ihn vor Überlastung.« 23
Pflegeberufe haben kein positives Image
Doch woher sollte dieses neue Bild kommen, auf welcher Basis könnte es entstehen? Das Rollenbild, das die Erwachsenenwelt in Werbung, Medien und Freizeitangeboten bereithält, sieht diesen Aspekt jedenfalls nicht vor. Die Botschaften von James Bond, Darth Vader und Megatron sind in der Kinderwelt längst angekommen: James Bond kennen Zweitklässler wenn noch nicht vom eigenen, so doch vom Smartphone des Freundes, Star-Wars-Motive gibt es jedes Jahr auf den Schulranzen für die nächste Erstklässlergeneration, und die Kampfmaschinen des Actionfilms »Transformers« stehen schon bei Fünfjährigen hoch im Kurs. Den Mythos vom harten Mann haben wir also keineswegs hinter uns gelassen: kämpfen, zerstören, auslöschen, vernichten sind durchaus gängige Vokabeln auf einem Kindergeburtstag. Wer von der Spielplatzbank aus manches Kriegsspiel beobachtet, weiß, dass es vonseiten der Eltern kaum Einschränkungen gibt: »So sind sie eben, die Jungs« legitimiert die Sandbombe im Kragen oder die Schaufel auf dem Kopf des Gegners. Ist ein Mädchen Teil der Kriegswirren, sind die Reaktionen der Erwachsenen sehr viel klarer und strenger, als wenn ein Junge der Auslöser war. Die Annahme, dass wir es hier mit etwas Unabänderlichem zu tun haben, führt dazu, dass Jungen »nicht deutlich genug vermittelt [wird], welche gesellschaftlichen Spielregeln einer Demokratie zuträglich sind und mit welchen Verhaltensweisen Gewalt und Schrecken verbreitet werden« 24, kritisiert Melitta Walter. Denn selbst da, wo Männer humanitäre Hilfe leisten, wo es um Mitgefühl geht, Hilfeleistung und Schutz, wo Kommunikationsfähigkeiten gefragt sind, werden diese Eigenschaften nicht als erstrebenswert herausgestellt. Die Bundeswehr zum Beispiel hat sich entschieden, diese Aspekte ihrer Aufgabe erst gar nicht in ihren letzten Imagefilm 25aufzunehmen, sie setzt lieber auf das Image des harten Mannes. Um die ›richtigen‹ Jungs unter den jungen Männern zu finden, ist der Film unterlegt mit harter Rockmusik und jaulenden Gitarren im Wechsel mit der deutschen Nationalhymne. Dazu Bilder aus der Heimat, die es in der Fremde zu verteidigen gilt, explodierende Granaten, Staub und Rauchfontänen, dazwischen Soldaten, die Spalier stehen, Bomben abwerfen, kraftvoll Hände schütteln und schwer bewaffnet durchs Gelände rennen. Düsenjäger und Panzer, Adrenalin und Testosteron, Kriegsschiffe und Raketen – der Clip macht klar: Soldat sein bedeutet kämpfen, und Kämpfen macht Spaß. Männer lieben eben, was hart macht, und Frauen ergänzen das prima, sind sie doch einfühlsam und kümmern sich um andere, sie helfen eben gerne.
Sei es der EU-Spot, der Mädchen in naturwissenschaftlich-technische Gefilde locken möchte, die Imagekampagne der Bundeswehr oder viele weitere Beispiele aus Werbung, Film und Marketing, hier wie dort werden Frauen und Männer auf Klischees reduziert. Die Begründung lautet in allen Fällen: Wir wollen die Menschen in ihren jeweiligen Lebenswelten ansprechen, sie dort abholen. Wofür und wohin? Etwa um dann gemeinsam in eine geschlechtergerechte Welt voranzuschreiten? Wohl eher, um uns ungeniert zur Kasse zu begleiten. Denn dafür ist das Insistieren auf den Unterschieden zwischen Männern und Frauen ein probates Mittel. Am Ende wundern wir uns dann, warum unsere erwachsen gewordenen Kinder weiterhin getrennte Wege gehen, sowohl in der Rollenaufteilung in den Familien, im Beruf als auch in der Persönlichkeitsentwicklung, zum Nachteil für alle.
Mädchen und Mathematik, Jungen und Einfühlungsvermögen, beide Beispiele zeigen nicht nur, dass wir die Wahlfreiheit unserer Kinder einschränken, dass wir die Möglichkeiten dieser Welt, aus denen sie frei auswählen könnten, vorsortieren in rosa und hellblau, dass wir Erwachsenen es sind, die vorgeben, welche Interessen wir den Mädchen zugestehen und welche unserer Ansicht nach männlich genug sind. Dabei ist die heutige Elterngeneration doch der Beweis, dass Rollenzuschreibungen flexibel sind, dass sie sich im Lauf der Zeit wandeln können. Immerhin war noch Mitte der 1970er-Jahre die Hälfte der Eltern der Ansicht, eine Frau sei nur dazu da, sich um ihren Mann, ihre Kinder und den Haushalt zu kümmern, wie es das österreichische Kanzleramt in seinem »Bericht über die Situation der Frau« 261975 zusammenfasste.
Beide Beispiele zeigen, dass Geschlechterstereotype kein Luxusproblem überambitionierter Helikoptereltern sind, sondern dass Mädchen und Jungen ein Recht darauf haben, dass wir uns einmischen. Denn obwohl wir wissen, dass Menschen unterschiedlich sind und dass sich ihre Eigenschaften, ihre Wünsche und Abneigungen ziemlich gleichmäßig auf die Geschlechter verteilen, und obwohl uns Individualität doch so wichtig scheint, legen wir als Gesellschaft trotzdem Wert auf eine Zweigeschlechtlichkeit, die ein gleichberechtigtes Aufwachsen, eine freie Entfaltung der Persönlichkeit unnötig erschweren.
2VON BEGINN AN ZWEI WELTEN
Warum wir schon vor der Geburt Unterschiede machen
Annette habe ich kennengelernt, als wir beide noch studierten. Wir waren Mitte zwanzig, hatten erste Arbeitserfahrungen gesammelt und bereiteten uns auf unsere Prüfungen vor. Auf der Geburtstagsfeier einer Freundin, die nach der Geburt ihres Sohnes wieder zu ihren Eltern gezogen war, diskutierten wir über unsere Vorstellungen von Familie und Karriere. Wir waren uns einig, dass sich Beruf und Kinder nicht ausschließen, denn Hausarbeit und Kindererziehung wollten wir natürlich mit unseren zukünftigen Partnern teilen. Wir waren überzeugt, dass die Männer unserer Generation, mit denen wir uns eine Beziehung vorstellen konnten, diese Haltung längst teilten, sodass wir kein Hindernis sahen, das unseren Plänen im Weg stehen könnte. Zehn Jahre später zog Annette mit ihrem Partner nach New York um. Sie war fertig ausgebildete HNO-Ärztin und hatte in Deutschland eine eigene Praxis, aber sein Arbeitgeber hatte ihm dort eine auf drei Jahre befristete Stelle angeboten, die er nicht ablehnen konnte. Sagt sie. Außerdem, wer sage schon Nein zu einem dreijährigen Auslandsaufenthalt mit bezahltem Umzug, Sprachkurs und allem Drum und Dran? Es sei sowieso ein Fehler gewesen, sich mit einer eigenen Praxis schon so früh auf Beruf und Wohnort festzulegen. In New York kam dann ihr erstes Kind zur Welt. Annettes Mann ist immer noch beim selben Arbeitgeber, die nächste Stufe der Karriereleiter führte ihn nach Hamburg, die Familie zog mit. Heute lebt Annette in München, mit ihrem dritten Kind ist sie gerade in Elternzeit. Ab und zu helfe sie in der Praxis eines Bekannten aus, was leider nur schwer zu organisieren sei, da ihr Mann selten vor 21 Uhr nach Hause komme.
Annettes Geschichte habe ich in den letzten Jahren so und in Variationen immer wieder gehört. Nicht eine der Frauen wurde gezwungen, ihre eigene berufliche Entwicklung der ihres Mannes unterzuordnen, natürlich nicht. Immer haben die Paare einvernehmlich entschieden, dass es so am besten sei für alle Beteiligten, vor allem für die Kinder. Die Gründe dafür sind jeweils andere, aber jede dieser Geschichten endet mit einer längeren Stille, in der die Erzählerin neben mir auf einer Spielplatzbank sitzt, vor einem Schultor steht oder in einer Küche eine Tasse festhält und nachdenklich ins Leere blickt.
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