Es ist toll, einen entspannten Ausritt – vielleicht mit Handpferd − zu machen, bei dem beide Pferde am Halfter laufen. Wir können Pause machen und die Pferde können Gras fressen, unterwegs ein paar wilde Hagebutten von den Sträuchern am Wegrand zupfen oder ein paar kleine Birkenzweige abbeißen. Auch das Trinken am See ist einfacher ohne Gebiss im Maul.
Die Pferde laufen am losen Zügel, in freier Kopf- und Halshaltung, und das Herz geht mir auf, wenn ich auf der langen abgemähten Waldwiese die Zügel von beiden Pferden vor mir auf den Sattel legen kann und beide weiter im ruhigen Galopp nebeneinanderher laufen.
Galopp mit Handpferd.
Zur Abwechslung im Training und natürlich auch, falls physisch bedingt ein Reiten mit Gebiss nicht infrage kommt (bei Zungen- oder Kieferverletzungen zum Beispiel), ist das gebisslose Reiten eine tolle Alternative. Ich denke, dass man ein Pferd durchaus sein Leben lang gesund gebisslos reiten kann, wenn man das möchte. Das setzt voraus, dass der Reiter mit viel Gefühl und Erfahrung und unter fachkundiger Anleitung eines erfahrenen Reitlehrers das Pferd in einer korrekten entspannten Haltung reiten kann. Das ist natürlich genauso der Fall beim Reiten mit Gebiss. Es gibt nur leider noch nicht so viele Reitlehrer, die den Schülern fachkundige Hilfestellung beim gebisslosen Reiten geben können.
Über den Tellerrand geschaut
Dem Pferd zuliebe ist es wichtig, dass wir uns offen und neugierig umsehen. Wir sollten anderen erzählen, wie und warum wir unsere Pferde reiten und ausbilden, ohne dass es darum geht, wer „recht hat“. Man muss nicht die anderen davon überzeugen, dass die eigene Reitweise die bessere ist. Es geht darum zu erklären, welche Besonderheiten die eigene Reitweise hat und warum sie diese hat. Und es geht auch darum, Gemeinsamkeiten zu entdecken und Mut zu machen, einmal etwas Neues auszuprobieren.
Was bedeutet „pferdefreundlich“?
„Pferdefreundliche Ausrüstung“ wird vielerorts angepriesen, und es scheint mir, dass dieser Trend eine Schattenseite haben könnte. Bei der Recherche für dieses Buch bin ich auf eine Unzahl von Produkten gestoßen, die mit Beschreibungen wie „Dein Pferd wird es dir danken“ oder „Die softe Alternative“ Käufer anlocken wollen − und es auch tun. Wir können Zäumungen mit den Namen „Anemone“, „Lilie“ und „Jasmin“ erwerben und sogar eine „gebisslose, zwanglose Sidepull-Zäumung“ – was ist wohl eine zwanglose Zäumung? Eine ohne Krawatte?
Ute auf Saphir: mit Halsriemen und Pfeil und Bogen.
Doch „wenn der gewünschte Effekt nicht erreicht wird“, kann man Hebelarme zum Anschrauben zukaufen. Man geht also davon aus, dass das Pferd einfach nur mehr Druck (nicht etwa mehr Training) braucht, um (gefälligst) zu reagieren.
Die Beschreibung „konsequent gewaltfrei“ wird gleichgesetzt mit dem bloßen Einkauf oder der Anwendung eines Kopfstücks – als ob man mit diesem Teil nicht auch Gewalt ausüben könnte. Ein anderer Hersteller verspricht, dass sein Produkt „Unbehagen durch sanften Druck ersetzt, ohne dass der Reiter die Führung verliert“. Ich muss also nur eines dieser Wundergeräte kaufen, und schon bin ich soft, sanft und „zwanglos“ unterwegs und habe obendrein auch noch die Führung übernommen?
Die psychologischen Auswirkungen einer solchen Anschaffung können jedoch leider negative Folgen für das Pferd haben. Beispielsweise zeigen Untersuchungen, dass wir eher bereit sind, einer momentanen Laune nachzugeben, wenn wir zuvor etwas „Gutes“ getan haben (Kelly McGonigal, The Willpower Instinct). Das könnte zum Beispiel bedeuten, dass unser Entschluss, beständig an unserer Zügelführung zu arbeiten, dem Pferd mehr Zeit zu geben und geduldiger zu werden, dadurch beeinträchtigt wird, dass wir gerade eine „softe“ Zäumung für viel Geld gekauft haben.
Darüber hinaus sehe ich leider häufiger Reiter, die frustriert und kräftig am Zügel ziehen, weil das Pferd jetzt mit dieser super pferdefreundlichen gebisslosen Trense geht und wenigstens ein bisschen dankbar sein sollte – das stand doch auch auf dem Beipackzettel?
Also – was ist pferdefreundlich? Pferdefreundlich und sanft kann man nicht kaufen, man muss es erarbeiten und erspüren. Das Gespür für das Wesen jedes einzelnen Pferdes, seine Vorlieben und Passionen, wird den verständigen Reiter die passende Zäumung finden lassen − eventuell mithilfe des Trainers. Kein seriöser Ausbilder, egal welcher Reitweise, würde einem Jungpferd eine Kandare ins Maul hängen, weil er es mit Trense nicht anhalten kann.
ZUM AUSPROBIEREN: Am eigenen Körper erleben!
Oft werden Zügel weich und bequem gemacht, damit dem Reiter die Hände nicht wehtun. Was wäre, wenn wir dem Reiter einmal Heuschnüre (die schönen alten, dünnen, aus Hanf) in die Hand geben würden, die rechts und links an einem Stallhalfter befestigt wären? Oder wenigstens an der Zäumung, mit der der Reiter gerade reitet?
Noch eindrücklicher wäre es, die Einwirkung auf den Nasenrücken selbst zu erleben, sind doch unsere Hände weniger empfindlich und weitaus besser gepolstert als das dünnhäutige Nasenbein. Als Test können wir einmal einen Bleistift oder Kugelschreiber quer über unsere Nase legen und dann mit den Zeigefingern rechts und links an den Enden des Stifts diesen gegen das Nasenbein drücken. Der Effekt wird uns überraschen! Um die Auswirkungen des Hebels zu spüren, kann man das stumpfe Ende des Bleistifts an der einen Wange fixieren und dann vorsichtig auf das andere Ende drücken. Einige werden jetzt argumentieren, schließlich nicht mit einer Stange auf der Nase des Pferdes zu reiten. Nein, natürlich nicht. Wählen wir also statt des Bleistifts eine flexible Variante. Im ungefähren Größenverhältnis könnte das etwa ein Verbindungskabel sein – zum Beispiel von einem Ladegerät. Dazu legen wir das Kabel oder die Schnur (bitte ohne dass das andere Ende in der Steckdose ist) über unseren Nasenrücken und drücken an beiden Seiten langsam immer kräftiger nach hinten. Dann ziehen wir ein paarmal ruckartig. Wie verändert sich das Gefühl mit einem doppelt oder vierfach gelegten Kabel? Diese Erfahrung sollten wir beim nächsten Mal mit zu unserem Pferd nehmen!
Der Trend im Freizeitbereich, der scharfe gebisslose Hebelzäumungen in unkundige Anfängerhände geraten lässt, sollte daher mit Sorge betrachtet werden. Wir sollten auch einmal darüber nachdenken, warum es üblich ist, sowohl Gebisse als auch gebisslose Zäumungen dünner oder härter oder beides zu machen als die Zügel. Und warum der Reiter dann immer noch in manchen Fällen die Hände mit Handschuhen schützen muss.
Hab also Acht, Reiter, auf dich selbst.
Ist dein Pferd stur, heftig, ungehorsam,
so dürften wir frech die Behauptung
aufstellen, dir fehle es an liebenswürdigem
Charakter und richtiger Methode.
François Baucher (1796−1873)
Warum sollten wir überhaupt mit Gebiss reiten, wenn es doch auch ohne geht? Das ist eine wichtige Frage. Wenn wir verstehen, dass die Voraussetzung für gutes Training die innere Einstellung zum Pferd ist, gepaart mit gut ausgeprägtem Gefühl und gut entwickeltem Timing für die Signale, dann machen wir uns ein bisschen unabhängiger von den äußeren Elementen und Werkzeugen.
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