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Gebisslos reiten macht Spaß und ist eine schöne Alternative für die meisten Pferde. Abwechslung im Training kann Pferd und Reiter mit neuen Herausforderungen wieder frische Energie geben. Oft erlebe ich, dass ein Wechsel der Ausrüstung das Pferd motiviert, wieder genauer hinzuhören, und den Reiter ermutigt, neue Wege auszuprobieren.
Schon lange hat auch mich diese Form des Reitens fasziniert. In besonderer Erinnerung steht ein Bild, das ich 1984 in einer Zeitschrift fand: Peter Kreinberg auf Indian Chief’s Smoke, einem seiner wunderbaren Araber-Pintos in wunderschöner Aufrichtung und Versammlung in einer kalifornischen Hackamore mit einer Mecate aus Pferdehaaren. Dieses Bild habe ich nie vergessen – es hing, aus einer Zeitschrift ausgeschnitten, jahrelang an meiner damaligen Teenager-Pinnwand.
Irish Cob Saphir mit Kim im See.
In vielen Arbeitsreitweisen werden die Pferde während der traditionellen Ausbildung teilweise gebisslos geritten. Vermutlich stammt dieses Wissen von wertvollen Erfahrungen: Man nutzt die Zäumungen, die in der Ausbildung am besten funktionieren. Das Gespür für das Pferd war sicherlich nicht bei allen traditionellen Trainern gleich gut ausgeprägt. Dennoch hat sich eine sinnvolle Tradition im Hinblick auf die gewählte Ausrüstung im Ausbildungsverlauf herausgebildet.
Interessant ist beispielsweise in der Vaquero-Tradition, dass hier die Zeit des Zahnwechsels berücksichtigt wird und die Pferde oft erst mit dreieinhalb Jahren angeritten werden. Gestartet wird mit einfachem Snaffle oder mit Wassertrense. Erst ein Jahr später, mit circa viereinhalb Jahren, wird auf die klassische Hackamore (Bosal plus Mecate) umgestellt − also erst, wenn die drei vorderen Backenzähne gewechselt sind (siehe Abschnitt „Zähne“, Seite 30f.). Danach wird mithilfe des Bosals wieder zum Gebiss umgestellt − zur Kandare, die als Krönung am Schluss einhändig und am losen Zügel das Pferd formt.
Viele Westernreiter reiten junge Pferde mit Sidepull oder Bosal (siehe Seite 42 f.). Sie können ihre jungen Pferde (bis fünfjährig) auch auf dem Turnier im Bosal vorstellen.
Die traditionelle Ausbildung in Spanien beginnt mit der Serreta (siehe Seite 42) auf der Pferdenase – später dann in Kombination mit einer Kandare und zuletzt auf blanker Kandare. In Frankreich übernimmt das Caveçon eine ähnliche Aufgabe. Hier sieht man oft die Guardians, die Hirten der Camargue, mit Kandare und Caveçon reiten: Manchmal sind die Pferde mit einem stehenden Martingal am Caveçon ausgebunden, um zu verhindern, dass das Pferd bei schnellen Wendungen und hartem Zügelanzug den Kopf hochreißt.
Innerhalb der Rasse der Peruanischen Pasos und vieler anderer Gangpferde werden die Pferde erst mit vier Jahren gebisslos mit dem peruanischen oder kolumbianischen Bosal eingeritten. Die Bosalphase dauert circa ein Jahr, und danach wird umgestellt auf Kandare − erst mit vier Zügeln, zuletzt ohne Bosal.
Viele moderne Trainer verwenden gebisslose Zäumungen in bestimmten Phasen der Ausbildung des jungen Pferdes. Und auch in den traditionellen Ställen ist das Longieren mit Kappzaum üblich. Teilweise wird der Kappzaum beim ersten Gewöhnen an das Reitergewicht eingesetzt.
Heute haben wir Zugang zu einem enormen Wissen um die vielen Vorgänge im Körper des Pferdes. Wir können röntgen, mit Ultraschall diagnostizieren, sezieren und obduzieren. Wir präparieren ganze Skelette, prüfen und überwachen Organfunktionen, definieren und studieren Epiphysenfugen und stellen erstaunt fest, dass die weichen Knorpel in der Wirbelsäule des Pferdes doch erst im Alter von fünf bis sechs Jahren vollständig stabil verknöchert sind. Basierend auf diesen Untersuchungen wird es zum Beispiel heutzutage manchen Pferden zugestanden, erst körperlich fertig zu reifen, bevor sie ein Reitergewicht tragen müssen.
Aufgrund der vielen negativen Episoden der letzten Zeit − vom Missbrauch der traditionellen Ausrüstung bis hin zu grotesken Bildern von Pferden mit aus Sauerstoffmangel blau angelaufenen Zungen oder blutenden Mundwinkeln − gibt es einen weltweiten Boom hin zum gebisslosen Reiten. Viele Pferdebesitzer möchten sich gern, verständlicherweise, deutlich von jenen Schreckensszenarien distanzieren.
Auf vielen Ebenen wird dafür gekämpft, eine Zulassung für gebisslose Zäumungen auf nationalen und internationalen Turnieren durchzusetzen. In den Niederlanden ist dies seit April 2014 bereits erlaubt – hoffentlich folgen andere Länder bald diesem guten Beispiel!
Die Ablehnung dieser Zulassung durch die FEI ergibt keinen Sinn, haben doch einige sehr angesehene Dressur- und Springreiter schon gezeigt, dass es auch ohne Gebiss geht. Beispielsweise zeigen die französische Grand-Prix-Reiterin Alizée Froment auf dem Lusitanohengst Mistral du Coussoul und natürlich die deutsche Grand-Prix-Reiterin Uta Gräf mit ihrem Holsteiner Hengst Le Noir fantastische Präsentationen fehlerfreier Grand-Prix-Lektionen – ohne Gebiss.
Die wissenschaftlichen Studien von Andrew McLean (PhD Equine cognition and learning) zeigen, dass die Lernfähigkeit des Pferdes fällt, je höher sein Stressniveau ist. McLean beschreibt in vielen Studien und publizierten Artikeln, wie wichtig es ist, dass das Training stetig auf eine leichtere Hilfengebung hinzielt, um das Pferd zur Mitarbeit anzuregen und dafür zu belohnen.
Das neue Wissen kann so einen sinnvollen, pferdegerechten Zugang fördern – wenn wir es nutzen. Es ist von großer Bedeutung, dass wir mit Herz und Gefühl an die Sache herangehen − ohne die wissenschaftlichen Fakten aus den Augen zu verlieren. Für alle Pferdebesitzer, die ihre Freizeit harmonisch mit ihrem Pferd zusammen verbringen möchten, ist es wichtig, beständig Informationen einzuholen und bestehende Traditionen zu hinterfragen.
Meine Pferde gehen alle gebisslos in allen Gangarten auf dem Platz, im Wald und am Strand – manche auch ganz ohne Zäumung oder mit Halsring. Oft reite ich mit Schnurhalfter am losen Zügel – oder mit Kappzaum oder Cavamore, wenn ich Stellungs- und Biegungsarbeit machen möchte.
Alle meine Pferde können aber auch mit Gebiss geritten werden. Ich benutze jedoch konsequent keinen Nasenriemen in Kombination mit einem Gebiss, da mir damit unter anderem der Vorteil verloren ginge, dem Pferd volle Bewegungsfreiheit im Kiefergelenk zu ermöglichen. Eine Ausnahme ist die Ausbildungsphase, in der ich von Gebiss auf gebisslos (oder umgekehrt) umstelle, da ich hier ein Halfter oder einen Kappzaum zusammen mit dem Gebiss gebrauche.
Der Start mit einer gebisslosen Zäumung macht dem Pferd das Leben viel leichter – kennen doch alle Pferde die Signale des Stallhalfters. Eine Zäumung, die ähnliche Signale gibt wie das Halfter, ist daher ein wertvolles Werkzeug für das Einreiten von jungen Pferden. Diese müssen anfangs sehr viele Eindrücke verarbeiten. Daher ist es sinnvoll, das Gewöhnen an ein Gebiss nicht in der gleichen Trainingsperiode anzugehen.
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