Er begann zu äsen, warf aber immer wieder in kurzen Abständen auf. Er stand immer noch spitz, zog herein auf die Wiese, wurde immer schneller und sprang schließlich flüchtig gegen das Altholz zurück. Ich hatte ihn im Zielfernrohr. Jetzt sprach ich ihn nicht mehr an, sondern ich schrie ihn an. Und da machte er das „Haberl“, das sein Schicksal besiegeln sollte. Der Schuss krachte hinaus in die abendliche Dämmerung, so laut, kam mir vor, dass ihn auch meine Frau oben am Tauern gehört haben musste. Und wenn nicht den Schuss, dann den Jauchzer, der mir gleich darauf entfuhr, denn der Bock lag im Feuer! Es war bei Weitem der beste Bock, den ich bis dahin erlegt hatte.
Das war dann natürlich ein großes Hallo beim Fritz, der rief gleich noch ein paar Nachbarn zu sich ins Haus, und die emsige Cilli trug Jause und Getränke auf, dass sich der alte Bauerntisch bog, eine Bockfeier der zünftigen Art nahm ihren Lauf. Von Fritz bekam ich dann noch so eine Art Orden: Er hätte schon vielen Jägern einen Bockabschuss in seinem Revier ermöglicht, ich wäre derjenige gewesen, der mit Abstand am längsten dazu gebraucht hatte! Ich habe nachgerechnet, es waren 16 Pirschgänge gewesen. „Zache Jaga mochn Wüdbrat!“, lobte mich der Fritz und klopfte mir anerkennend auf die Schulter. Und meine liebe Frau oben am Tauern war auch nicht sonderlich böse darüber, dass ich die Nacht im gastlichen Haus von Fritz und Cilli verbrachte, an ein Nachhausefahren war nicht zu denken.
Als wir im November das erste Mal ins Stierkar aufstiegen und Ausschau hielten nach einem passenden Gamsbock für Fritz, dachte ich kurz darüber nach, ob ich es ihm nicht auch ein wenig schwerer machen könnte und ihn zumindest beim ersten Mal auf gar keinen Fall zu Schuss kommen lassen sollte. Aber den Gedanken verwarf ich gleich, denn so etwas rächt sich meistens. Ich sah an diesem kalten und klaren Novembertag die Gämsen schon von Weitem in den Wandeln stehen, wir kamen bei passendem Wind gut heran, und Fritz erlegte mit sicherem Schuss seinen Gamsbock. Und die Freundschaft eines Gebirgsjägers mit einem Landler-Bauern, die mit einem jagdlichen (Bock-)Handel begonnen hatte, war für lange Zeit gefestigt.
Einen hatten wir in unserem Dorf, der hieß Alois. Jedenfalls war das sein richtiger Name. Die Leute nannten ihn alle Luis. Der Luis war ein riesenhafter Lackel und maß wohl nicht viel weniger als zwei Meter in der Höhe, aber auch seine Breite war mehr als bemerkenswert. Hände hatte er wie Bärentatzen und eine Kraft, die jedem Wirtshaus-Randalierer schon beim Gedanken daran die Schweißperlen auf die Stirn trieb. Luis war häufig im Gasthaus anzutreffen, was dem Frieden am Stammtisch stets sehr zuträglich war. Denn der Luis war keineswegs ein Raufbold, ganz im Gegenteil, er war meist derjenige, der Meinungsverschiedenheiten zur Einigung brachte, und da reichte üblicherweise bereits seine bloße Anwesenheit. Außerdem war der Luis praktisch immer guter Laune, war zu jedem freundlich, zeigte sich stets hilfsbereit und konnte keine Bitte abschlagen. Wenn also für irgendeine Arbeit besonders viel menschliche Muskelkraft erforderlich war, rief man den Luis, der machte das. Und als der Bruckenwirt dem Luis einmal anerkennend auf die Schulter klopfte, als dieser gerade wieder einmal einen besonderen Kraftakt vollbracht hatte, meinte der Luis mit seinem unnachahmlichen Grinsen im Gesicht: „Woaßt, Bruckenwirt, i moa, waun die Wöd Habel hätt, i hebat sie aus!“ Das gefiel dem Bruckenwirt und den anderen umstehenden Mannsbildern, und der bärenstarke Luis hieß fortan „Wödhabel-Luis“!
Sicher, ein bisschen einfältig war er schon, der Kraftlackel, denn wer glaubt denn allen Ernstes, dass er die Welt aus den Angeln heben könnte? Und wer ist schon zu jedermann freundlich, will keinem etwas Böses tun und hilft überall, ohne irgendeine Gegenleistung zu erwarten? Der Luis tat das und war immer zufrieden mit dem, was man ihm gab. Ganz schön oft war das auch nur ein halbherziges Dankeschön. Aber natürlich bekam er für manche Arbeiten auch Geld, und wenn er von einem Bauern um Hilfe gebeten wurde, gab es für einige Tage auch Essen und Trinken. Ausgeschlagen hat er keinem eine Bitte, aber je kleiner und armseliger ein Bäuerlein war, desto lieber half ihm der Luis. Denn bei den großen Bauern saß er zu Mittag am Gesindetisch und bekam meistens einen Teller Sterz und einen gewässerten Most. Bei den ärmeren Bauern saß er aber stets mit den Bauersleuten am Tisch und bekam, was auch diesen aufgetischt wurde. Komisch eigentlich, dachte sich der Luis jedes Mal wieder.
Natürlich wurde er auch ab und zu gehänselt und immer wieder einmal gefragt, wann er denn nun die Welt aus den Angeln heben würde, aber meist war man doch sehr froh, dass man ihn hatte. Denn wenn etwa Zaunstipfel für einen Almzaun auf den Berg zu tragen waren, lud sich der Luis dreimal so viel auf seinen Rücken wie der Bauer. Wenn an einem Karren ein Rad zu wechseln war, hielt der Luis den Karren ohne viel Mühe währenddessen in die Höhe. Wenn irgendwo ein Loch zu graben war, erledigte der Luis das in einem Bruchteil der Zeit, die ein anderer dafür gebraucht hätte. Und wenn ihm dann anerkennend auf die Schulter geklopft und seine titanenhafte Kraft bewundert wurde, war er glücklich, der Wödhabel-Luis.
Es war ein guter alter Brauch, dass sich Anfang November jedes Jahr die Jäger des Dorfes zur Hubertusjagd versammelten. Der Luis war zwar kein Jäger, aber er war ein unentbehrlicher und höchst begeisterter Treiber. Ihm konnte man ohne Bedenken die doppelte Wegstrecke der anderen Treiber zumuten, das machte ihm überhaupt nichts aus, vermutlich wäre er sogar beleidigt gewesen, wenn man es nicht getan hätte. In einem Jahr, in dem zu dieser Zeit bereits der erste Schnee gefallen war und der Wind ordentlich durch das Tal pfiff, machten sie sich wieder auf, um vielleicht einen passenden Hubertushirsch zur Strecke zu bringen. Der Sepp, der Karl, der Gottlieb und natürlich der Luis waren die Treiber. Luis, der sich auch in den meisten Revieren bestens auskannte, stellte zuerst die Schützen an, stapfte dann wieder ganz hinunter ins Tal und war zur Stelle, als der Trieb angeblasen wurde. Nachdem bereits ein „Schneberl“ lag, wie die Jäger das nannten, also eine dünne Schneedecke das Land überzog, ließen sich auch die Fährten sehr schön verfolgen, und es dauerte tatsächlich nicht besonders lange, bis die ersten Schüsse fielen.
Luis kam nach einer guten Stunde zum Albrecht, der am oberen Rand einer wirklich sehr steilen Felsrinne stand, die in einer Art Doline endete, und einigermaßen besorgt in die Tiefe blickte. „I haun auf an Hirsch gschossn, und stöll da vor, der is genau in deis Loch einigrutscht!“, meinte er zum verdutzten Luis. Da war nun guter Rat teuer, wie sollte man den Hirsch in diesem eigentlich unzugänglichen Gelände bergen? Einige der anderen Jäger hatten sich ebenfalls eingefunden, alle blickten sie zaghaft hinunter zum verendeten Hirsch, aber keiner machte irgendwelche Anstalten, etwas zu unternehmen.
Inmitten der herumstehenden Jäger war der Luis der einzige, dem etwas einzufallen schien. Und wie immer stand seine Muskelkraft im Mittelpunkt seiner Überlegungen, er entledigte sich seines Rucksacks und seines Wetterflecks und kletterte bedächtig, aber zielstrebig hinein in die steile Felsrinne. Nach und nach bemerkten es die Jäger und schauten ihm nicht ohne Besorgnis nach. „Wos tuast denn do, Luis?“, rief ihm der Bruckenwirt hinterher. „Jo, oana muass jo den Hirsch huin, oder wuits n liegn lossn?“, gab der Luis zur Antwort und ließ sich nicht mehr davon abbringen, hinunterzuklettern zum verendeten Hirsch. Dort angekommen, spuckte er sich ein paarmal ordentlich in die Hände, band die Vorder- und die Hinterläufe des Hirsches mit einem „Strangl“ zusammen, hob sich den ganzen Hirsch auf seinen Buckel und kraxelte langsam, aber sicher die elend steile Felswand herauf. Die Münder aller oben stehenden Jäger standen weit offen, keiner sagte ein Wort. Dass der Luis sehr viel Kraft hatte, das wussten sie, aber dass er mit einem Hirsch auf dem Buckel eine Felswand nach oben klettern konnte, das ging ihnen entschieden zu weit. Und als der Luis dann tatsächlich über die Felskante heraufschaute, schweißüberströmt und schwer schnaubend, und ihnen den Hirsch vor die Füße schmiss, ging ein Raunen durch die Reihen. Die Männer schüttelten ihre Köpfe, sie konnten nicht glauben, was sie gerade mit eigenen Augen gesehen hatten.
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