Am Brandenburger Tor wird gerade eine Bühne aufgebaut. Wir drängeln uns durch die Menschenmassen. Der Blick auf das berühmte Wahrzeichen ist durch die Aufbauten verstellt. Aber er bekommt sein Foto mit Tor. Stolz schickt er es an seine Familie.
Ich zeige ihm das berühmte Hotel Adlon und schlage vor, hier einen Tee zu trinken. Vorbei am Portier in historischer Livree schreiten wir in das Gebäude, das so gar nicht zu uns passt. Wir laufen aufrecht und mit angemessen ernstem Blick über den edlen, glänzenden Fußboden und kichern. Im riesigen Foyer setzen wir uns erleichtert, dass uns niemand gefragt hat, wo wir hinwollen, an einen freien Tisch. Doch noch bevor der Kellner kommt, ziehe ich Tolja wieder raus aus dem Luxus. Elf Euro für einen Tee sind selbst mir zu viel. Wir lachen und kommen gar nicht darüber weg, dass wir gerade solche Preise auf der Speisekarte gelesen haben.
Alles was Geld kostet, möchte Tolja sowieso am liebsten vermeiden. Egal was ich vorschlage, es folgt sofort die Frage, ob es etwas koste. Trotzdem kann ich ihn zu einer Kartoffelsuppe und einem Tee überreden. Ein kleines Restaurant, welches zur Humboldt-Universität gehört, passt viel besser zu uns. Wir zahlen pro Person zehn Euro, einen Euro weniger als allein der Tee im Adlon kosten sollte.
Am Alexanderplatz gibt es die Ausstellung „Körperwelten“. Ich versuche Tolja zu erklären, dass dort echte Leichen ausgestellt sind und dass es darüber hier in Berlin viele Diskussionen gibt. Er wirkt total interessiert. Ich bin erstaunt und denke, dass er mich vielleicht falsch verstanden hat. Im Eingangsbereich zeige ich ihm Bilder, und nachdem ich im Online-Wörterbuch noch einmal nach „toter Körper“ und „Leiche“ gesucht habe, beschreibe ich erneut, was uns in der Ausstellung erwarten würde. Er hat richtig verstanden und will das unbedingt sehen. Zum ersten Mal fragt er nicht, ob es teuer ist. Der sonst so artige Russe fotografiert heimlich mit seinem Handy fast jedes Ausstellungsobjekt und schickt die Fotos nach Sibirien an seine Schwester Valentina, die als Krankenschwester arbeitet. Was er wirklich über die Exponate denkt, erfahre ich nicht. Schockiert ist er keinesfalls. Er findet es anscheinend sehr spannend.
Vor dem Berliner Dom machen wir Pause. Wir liegen mit anderen erschöpften Touristen auf der Wiese und Tolja macht Fotos, die er später ins Internet stellt. Auf den Bildern sind auch seine schwarzen Socken in Sandalen zu sehen. Ehrlich gesagt finde ich Socken in Sandalen schrecklich, aber ich traue mich nicht, ihm das zu sagen. Ich möchte ihn nicht verunsichern und eigentlich ist es mir auch egal. Lustig finde ich, dass ein russischer Freund auf seine Fotos reagiert und sich ebenfalls über die schwarzen Socken lustig macht. Tolja schreibt später einen Kommentar dazu. Es wären eigentlich weiße Socken gewesen, aber unterdessen seien sie schwarz geworden durch das viele Laufen in der Stadt.
Oh Gott, weiße Socken wären ja noch schlimmer.
Heute muss ich arbeiten. Ich habe diesen Job ganz bewusst nicht abgesagt, denn mein Kameramann ist Reiner. Reiner kennt die Geschichte von Tolja und mir von Anfang an. Mit ihm und unserem Tonassistenten Steffen war ich vor anderthalb Jahren das erste Mal in Sibirien. Wir haben dort einen Film über die Minderheit der Ewenken am Baikalsee gedreht und Anatoli war unser Protagonist.
Reiner und Steffen waren die Ersten, die kapiert hatten, dass sich der Sibirier in mich verliebt hatte. Sie wussten es noch vor mir.
Ich habe Reiner viel über meine beiden weiteren Reisen und all meine Wünsche, Träume und Probleme erzählt. Er ist also auf dem Laufenden und freut sich riesig, den Mann aus Sibirien wiederzusehen.
In einem kleinen Dorf in der Lausitz ist heute ein großes Fest. Folkloregruppen aus der halben Welt sind zu Gast und treten auf verschiedenen Bühnen auf. Wir drehen die Moderationen für unser sorbisches Magazin. Ich bin total aufgeregt, das alles Tolja zeigen zu können.
Mit dem Auto fahren wir ungefähr zwei Stunden bis zum Drehort. Tolja hat es leider nicht mehr geschafft, eine internationale Fahrerlaubnis zu beantragen, bevor er nach Deutschland kam. So darf er hier nicht fahren und vielleicht ist er auch gar nicht so böse darüber, denn einhundertvierzig Stundenkilometer (mehr schafft mein Auto nicht) auf einer deutschen Autobahn, das würde er sich vielleicht doch nicht trauen. Ich weiß nicht, was er denkt, habe das Gefühl, er wird immer ruhiger. Er sagt nicht, was in ihm vorgeht oder was er fühlt. Ich leide, weil ich nicht weiß, ob es ihm gut geht. In meiner Fantasie war das anders. Ich hoffte, wir würden über alles reden, er würde darüber philosophieren, wie er die Dinge hier sieht, was er denkt und empfindet. Ich war so neugierig darauf. Aber in der Realität ist er sehr zurückhaltend mit seinen Meinungen. Und das liegt nicht nur an unserem Sprachproblem.
Meine Kollegen begrüßen uns sehr freundlich. Reiner und Anatoli umarmen sich fest und lange. Doch mein Sibirier wird immer stummer. Ja, es ist eine schwierige Situation für ihn, aber ein klein wenig mehr Kommunikation würde ich mir auch von seiner Seite wünschen.
Tolja trägt das Kamerastativ. Er schleppt es den ganzen Tag. Wenn wir filmen, filmt er auch. Mit seinem Handy. Jedes Folkloreensemble wird festgehalten. Ob es ihm gefällt, weiß ich nicht. Langsam wird es dunkel und kühl. Wir drehen die letzten Einstellungen. Ich friere, bin müde und k. o. und möchte nach Hause. Doch Tolja ist verschwunden. Die anderen Kollegen verabschieden sich von mir. Nach und nach fahren sie mit den Autos davon. Ich stehe allein auf der dunklen Dorfstraße und suche meinen Mann.
Ich finde ihn bei Reiner im Auto. Die beiden reden sehr vertraut und ich höre Tolja zum ersten Mal lachen an diesem Tag. Das tut gut, aber wir müssen los. Vor mir liegen noch zwei Stunden Fahrt. Die Männer umarmen sich und wir steigen in mein Auto. Tolja bedankt sich für dieses wunderbare Erlebnis und schläft ein. Ich bin müde und fände es sehr viel besser, wenn er mich während der langen Fahrt durch die Nacht irgendwie unterhalten würde. Doch er sagt keinen Ton mehr. Ob er wirklich schläft oder nur so tut weiß ich nicht. Ich bin traurig.
Zu Hause angekommen wartet er kaum bis ich das Garagentor geschlossen habe. Er ist vor mir im Bett und ich lege mich enttäuscht dazu. Plötzlich umarmt er mich. Hält mich fest und bedankt sich erneut für dieses Erlebnis. Ich sage ihm, dass ich den ganzen Tag über glaubte, dass er sich nicht wohlfühle. Nein, ganz im Gegenteil. Russisch theatralisch erzählt er mir, wie wunderbar der Tag für ihn war. Jede Folklore wird beschrieben, jeder Tanz wird mit der Kultur seines Volkes, den Ewenken, verglichen. Er spürte den ganzen Tag so etwas wie Sehnsucht. Gern hätte er diesen Tag zusammen mit seiner großen Familie erlebt. Ich bin erleichtert. Doch spüre ich auch das Heimweh, das mit uns im Bett liegt.
Müde und eng umschlungen schlafen wir ein. Ich schlafe tief und fest und nach langer Zeit auch die ganze Nacht durch. Kein Telefon, keine Mails mitten in der Nacht. Wir leben in der gleichen Zeitzone, im gleichen Rhythmus, wir leben zusammen.
Als ich ihn am Morgen neben mir sehe, bin ich der glücklichste Mensch auf der Welt. Von mir aus können wir hier die Welt anhalten, die Zeit stoppen – das möchte ich festhalten. So soll es bleiben.
Beim Frühstück wird es lustig. Mein Sohn spricht kein Wort Russisch, Tolja kein Wort Deutsch. Aber zwischen den beiden stimmt die Chemie. Sie reden mit Händen und Füßen und ein bisschen kann ich auch übersetzen. Tolja hat vom Baikal auch getrockneten Fisch mitgebracht. Er fragt Vincent, ob er den kosten möchte. Obwohl der kein großer Fischesser ist, probiert er. Tolja lacht. „Nein, so isst man den Fisch nicht.“ Er zeigt, wie man mit den Zähnen die kleine Schwanzflosse packt, dann mit einem kräftigen Ruck die Hauptgräte rauszieht und wie man dann genussvoll knabbern kann. Vincent versucht es und es klappt. Es ist ein schönes Gefühl zu sehen, dass die beiden miteinander klarkommen. Musste Vincent doch monatelang meine Sehnsucht ertragen, ohne zu ahnen, wen die Mutter da eigentlich vermisst. Für mich sind die beiden wichtigsten männlichen Wesen in meinem Leben gerade in diesem Moment ein wunderbares Team. Es macht mich unendlich glücklich.
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