1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 »Die Archäer sollen das Geheimnis der Theurgie gekannt haben«, fuhr sie fort, »die Fähigkeit, Götter zu beschwören und sie ihrem Willen zu unterwerfen.«
Es klang absurd und Acuriën stockte kurz in seinen Bewegungen. Die Götter waren so gut wie allmächtig und nur andere Götter oder Erzdämonen, vielleicht noch Giganten, konnten ihnen etwas anhaben. Jemand, der einem Gott gebietet, wäre der nicht selbst ein Gott?
Amadena wusste, dass es kein Ding der Unmöglichkeit war, und teilte noch mehr Wissen mit ihrem alten Weggefährten, während sie in den folgenden Jahren die unteren Ebenen erkundeten. Sie hatte diese Geschichten von einem der Archäer direkt gehört, als seine Seele in ihre Einzelteile zerlegt worden war. Das Wesen hatte behauptet, dass es unter seinem Volk solche gab, die selbst die Essenz der Göttlichkeit in sich trugen, auch wenn sie wie Sterbliche über Dere wandelten.
Bisher war Amadena nur das Werkzeug eines gefesselten Gottes gewesen. Doch damit würde sie sich künftig nicht mehr begnügen. Sie kannte den Platz, der ihr zustand, und sie hatte eine klare Vision, wie sie ihn erreichen könnte. Die uralten Artefakte, die sie in Baan-Bashur bergen wollte, waren die ersten Schritte auf diesem Weg.
In der untersten Ebene des Berges fand sie schließlich das, was sie am dringlichsten gesucht hatte. Acuriën war bei ihr an diesem Tag, sein metallener Körper war korrodiert und fast aufgelöst vom Blut und der Säure, die durch die Adern seiner Feinde geflossen waren. Mit jeder weiteren Ebene unter dem Berg waren die Gänge größer geworden, bis sie titanische Ausmaße erreicht hatten. Treppenstufen reichten Amadena bis zum Scheitel, die Höhlendecke war oft nur noch zu erahnen und in den fernen Schatten schrien Kreaturen aus vergessenen Zeitaltern. Im Zentrum der letzten Ebene schwebten die beiden ungleichen Gefährten schließlich über einen See aus flüssigem Gold, um eine Insel mit einer Festung darauf zu erreichen, deren Türme irgendwo in der lichtlosen Höhlenwelt mit der Decke verschmolzen und die Wurzeln des Reiches bildeten, über das sie herrschte. In dieser Festung standen ihnen ihre bisher härtesten Kämpfe bevor und Amadenas Zauberkraft hätte beinahe nicht ausgereicht, um die Wesen zu vertreiben, die hier über den größten Schatz der Archäer wachten: Gefäße der Schöpfung, in der Lage, selbst einem Gott einen Leib zu schaffen.
Amadena und ihre Alben konnten den Berg Baan-Bashur und die besetzten Gebiete fast 200 Jahre lang halten. Als die zerstrittenen Häuser Amadena endlich als die größte Bedrohung erkannten, schlossen sie sich zum Zweiten Imperium zusammen und vertrieben die Feinde zurück in den Norden, aus dem sie gekommen waren.
Amadena hätte dies niemals geschehen lassen, hätte sie zu diesem Zeitpunkt nicht längst alles gehabt, wofür sie gekommen war. Die Herrschaft über das Imperium bedeutete ihr nichts, sie hatte Größeres im Sinn. Tatsächlich hatte sie mit ihrem offenen Krieg viel mehr Aufmerksamkeit erzeugt, als es ihre Absicht gewesen war. Sie hatte die Menschen und ihren Willen, in Notsituationen zusammenzuarbeiten, unterschätzt. Diesen Fehler würde sie in Aventurien nicht wiederholen.
In den folgenden Jahrhunderten perfektionierte sie das Werk, das sie vor ihrem Sturz begonnen hatte, ihren Beitrag zur derischen Schöpfung: die Chimären. Die Wesen, die später als Gletscherwürmer bekannt werden sollten, machten erstmals tausend Jahre nach Amadenas Rückkehr aus den Niederhöllen den Norden Myranors und Aventuriens unsicher. Es waren Weiterentwicklungen der eisigen Würmer, mit denen sie bereits im Himmelsturm experimentiert hatte. Ein Herz einer solchen Kreatur hatte sie mit dem des Menschen Kilgan verschmolzen und diesen damit unempfindlich gegen Kälte gemacht. Die Gletscherwürmer waren zwar nicht die größten oder mächtigsten unter den Drachen, aber sie waren eine ausgezeichnete Ergänzung für die Truppen der Shakagra in den Nordgebieten. Sie konnten jahrzehntelang so gut wie regungslos verharren oder vom Himmel aus die Horizonte im Blick behalten. Sie waren die perfekten Wachen für Amadenas eisiges Reich.
Dass einige der fenvar sich mitsamt ihren Städten ins Verborgene zurückgezogen hatten, ließ ihr jedoch keine Ruhe. Je öfter sie sich wieder in Aventurien aufhielt, umso mehr steigerte sie sich in die Idee hinein, dass die überlebenden fey sich wieder zusammenrotten und geeint gegen sie vorgehen könnten, so wie es die Menschen in Myranor getan hatten. Sie erschuf eigens verschiedenste Kreaturen als Spione und Jäger, nur um ihre verhassten Artgenossen aufzuspüren und zu vernichten.
Nicht allen fey setzte sie mit Monstermacht zu. Viele wurden der Kriege Aventuriens überdrüssig und schworen, freiwillig ins Licht zurückzukehren. Doch das war Amadena nicht genug. Sie nutzte jede Gelegenheit, um selbst diese »Feiglinge« für ihre Zwecke einzusetzen. Statt sie ins Licht gehen zu lassen, lockte sie immer mehr von ihnen ins mahlende Nichts des dhaza. Sie sorgte dafür, dass Acuriën die Schreie ihrer gepeinigten Seelen vernahm.
»Ohne dich wären sie jetzt alle im Licht und für meinen Herren verloren. Ich danke dir.«
An jenem Tag, als dies geschah, belohnte sie Acuriën für seine tausend Jahre Dienst und verschmolz seinen Geist für einige Stunden wieder mit dem eines sterblichen Wesens, sodass er Nahrung kosten konnte. Sie hatte dafür eigens eine amphibische Art der Neunaugenfische geschaffen und setze dem erbärmlichen, egelartigen Wesen einen Trog mit Blut vor. Elfenblut, da war sich Acuriën sicher. Er trank es trotzdem.
Nachdem Amadena sich die Vorherrschaft über die Polarregionen gesichert und die Reste der fenvar in ihre Schranken verwiesen hatte, begann sie sich wieder mehr für das südliche Aventurien zu interessieren. Dort waren inzwischen neue Völker angekommen, Siedler aus Myranor, die am Meer der Sieben Winde die Stadt Bosparan gegründet hatten und schnell mit dem Volk der Tulamiden in Krieg gerieten. Acuriën konnte nie herausfinden, ob Amadena den Güldenländern, wie sie sich später nannten, die Idee der Besiedlung des neuen Kontinents in den Geist gepflanzt hatte oder ob es deren natürlicher Expansionsdrang gewesen war. Was Acuriën aber sicher wusste, war, dass Amadena und ihre Spione die neuen bosparanischen Kaiser, die Horanthes, nicht aus den Augen ließen, denn diese Herrscher waren in der Tradition ihrer güldenländischen Herkunft oft Zauberwirker und hielten sich für Halbgötter. Und an Göttern, die unter Sterblichen wandeln, ob nun wahre oder eingebildete, hatte Amadena seit ihrer Zeit in Baan-Bashur ein besonderes Interesse entwickelt.
So war es denn auch Baan-Bashur, wo – einige Jahrhunderte vor dem Fall Bosparans in Aventurien – ebensolche leibhaftig auftauchten. Die Oberhäupter der Häuser Melarythor und Ennandu waren fleischgewordene Prinzipien von magischer Macht und Weisheit und löschten sich gegenseitig in einem Jahrzehnte währenden Krieg aus. Der Oberste des Hauses Melarythor wurde als Alveraniar des Verbotenen Wissens verehrt, als Himmlischer Gesandter, der die Sterblichen in bester Tradition der Archäer mit dem Geschenk der Magie betraute, nebst all den Risiken, die dies barg.
Amadena hatte diesen Konflikt zu spät bemerkt – sie war zu sehr in ihre Experimente vertieft gewesen. Erst als die Sphären ob des Kampfes der beiden Himmlischen zu beben begannen, richtete sie ihren Blick auf sie. Melarythor hatte die Kraft, Kontinente einzuebnen und Sterbliche verfielen ihm, wenn er sie nur ansah. Er trug auf seinem Haupt die Dreizehnstrahlige Dämonenkrone, das Symbol für den Bund und das Werkzeug zur Herrschaft über die Niederhöllen. Einst hatte der Namenlose selbst diese Krone getragen, ja vielleicht sogar selbst geschmiedet. Dass sie nun im Besitz dieses Halbgottes war, musste ein Zeichen sein. Entweder ein Zeichen, dass ein Pakt zwischen ihm und Amadena vorherbestimmt war – oder dass sie sie ihm gemeinsam mit seiner göttlichen Macht entreißen musste.
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