Dann ritt Bar-Chara zu der Jurte bei der silbern bemoosten Zirbelkiefer. Wie freute sich das kleine alte Weiblein, als er vom Pferd sprang. Als wäre ein verlorener Sohn heimgekehrt, als wäre ein Toter aus dem Grabe auferstanden, so freute sie sich! Vom Anbindepfahl bis zur Jurte schüttete sie grünes Gras auf, sie schlachtete die fetteste Mastkuh und das Pferd mit der fleischigsten Brust. So richtete sie den Hochzeitsschmaus. Schachtelhälmchen aber weinte, als sie Bar-Chara sah. »Jetzt kommst du zu mir? Hast du nicht der Dschelbege erlaubt, mein Blut zu vergießen, meine zarte Haut zu zerreißen, hast du mich nicht den grauen Hunden zum Fraß gelassen? Und nach allem hoffst du, hier eine Frau für dich zu finden? Es gibt mehr Mädchen als Barsche in den Flüssen, es gibt mehr Frauen als Plötzen in den Seen, such dir unter ihnen eine Frau! Ich will dich nicht!«
»Ich habe dich nicht zur Dschelbege geschickt«, versetzte Bar-Chara. »Ich habe dich nicht den grauen Hunden zum Fraß gelassen! Ich ritt in den Wald, der Füchsin nach, und wies dir den Weg. Und ich sagte nicht: Reite dorthin, wo der Tod ist!« Das kleine alte Weiblein wischte sich aus jedem Auge eine Träne, setzte sich in die Mitte zwischen die beiden und sagte: »Vom Tode bist du auferstanden, nach langer Trennung habt ihr euch wiedergefunden, ist es denn möglich, dass ihr euch da nicht freut? Habt euch lieb so wie früher! Seid gut miteinander so wie früher! Hört auf mich und tut, was ich euch sage!« Da sagte Schachtelhälmchen leise: »Es ist gut. Ich will es tun und alles vergessen.« Wie sprang Bar-Chara da vor Freude in die Höhe, wie tanzte und sprang er umher, wie umarmte er seine Braut und küsste sie. Dann ward das falbe Ross gesattelt mit silbernem Sattel, gezäumt mit silbernem Zaumzeug, bedeckt mit silberner Decke, an seiner Seite eine silberne Gerte hing. Schachtelhälmchen legte von Neuem das Brautgewand an, und sie machten sich auf den Weg. Sie ritten lange. Es kam der Winter mit Schnee auf den Wegen, es kam der Sommer mit warmem Regen, es kam der Herbst mit Nebelgrau. So ritten sie. Schließlich kamen sie zu der Jurte von Bar-Charas Vater. Alle Anverwandten warteten schon auf das Brautpaar. Vom Pferdepfahl bis zur Hochzeitsjurte lag ein Streifen von grünem Gras. »Wenn die rechte Braut kommt«, dachten die jungen Männer, »werden schwarze Zobel auf den Weg springen bei jedem Schritt, den sie tut.« Und sie schnitzten Pfeile und schnitzten so emsig, dass ihnen die Haut von den Händen abging. Die Mädchen flochten Schnüre und zwirnten so eifrig, dass ihre Fingerspitzen bluteten. Während sie auf die Braut warteten, dachten sie: »Wenn sie spricht, werden rote Perlen aus ihrem Mund zur Erde rollen!« Dann brachte Bar-Chara die Braut. Zwei Mädchen banden die Pferde fest. Sie hoben die Braut aus dem Sattel und stellten sie sacht auf den Boden. Da sprach die Braut mit wohlklingender Stimme und rote Perlen fielen aus ihrem Mund. Die Mädchen lasen sie auf und reihten sie auf die Schnüre. Die Braut schritt zur Jurte und wo sie hintrat, da sprangen schwarze Zobel über den Weg. Die Pfeile der Burschen reichten nicht aus, sie zu erlegen. Da riefen alle: »Ah, Bar-Chara, das ist die richtige Braut!« Die Braut ging in die Jurte und zündete mit drei jungen Lärchenwipfeln das Herdfeuer an.
Junger Schachtelhalm im Morgenlicht.
Nun konnte das Hochzeitsfest beginnen. Und es kamen Gäste von überallher, aus allen Dörfern. Und es kamen Sänger, und Tänzer waren dabei, auch Springer, Ringer und Märchenerzähler.
Eine Woche lang dauerte die Hochzeit, und es gab ein Gastmahl, dass der Rauch bis in den Himmel aufstieg und in den Wolken hängen blieb. Dann ritten die Gäste nach Hause, und für Bar-Chara und seine Frau begann ein Leben in Glück, von dem ihre Kindeskinder noch heute erzählen. 4
DER SCHACHTELHALM UND DAS GOLDENE ZEITALTER
In der griechischen Tradition wurden das Prinzip und der Kreislauf des Werdens und Vergehens mithilfe der Gottheit Kronos ausgedrückt. Ihm entspricht im alten Rom die Gottheit Saturn. Bei beiden findet sich das Thema der Wiederauferstehung, des Lebens im Glück oder des ewigen Lebens. Die alten Kräuterheilkundigen müssen geahnt oder auch gewusst haben, welche Urpflanze sie da vor sich hatten, als sie den Schachtelhalm diesen Göttern zuordneten.
Wie bereits bei der Zeitreise zu den Ursprüngen der Schachtelhalme und ihrer unglaublichen Überlebensgeschichte durch sämtliche Katastrophen hindurch könnte auch bei diesem Thema der heutzutage meist digital geeichte menschliche Verstand ins Schleudern kommen. Denn diese Gottheiten drücken etwas aus, das man als schreckliches, stets neues Absterben und genauso gut als wohltuendes ewiges Wiederauferstehen oder gar ewiges Leben bezeichnen könnte. Die Gottheit Kronos wurde als eine Gottheit beschrieben, die ihre eigenen Kinder frisst, denn was mit der Zeit entsteht, vergeht auch wieder mit der Zeit.
Saturn beziehungsweise Kronos galten als Herrscher des Goldenen Zeitalters. Dieser alte Mythos einer paradiesischen Zeit findet sich in der griechisch-römischen Kultur ebenso wie in jüdischen, christlichen und muslimischen Texten. Mit dem Goldenen Zeitalter verbunden ist die Vorstellung des Gartens Eden auf Erden. Eine Zeit, in der Mensch und Tier in Frieden miteinander lebten, ohne mühevolle Arbeit und ohne Besitztum. Die Menschen hätten sich nicht bekleidet und vegetarisch von Früchten und Pflanzen ernährt. Die Qualitäten Einfachheit, Unschuld und Genügsamkeit wurden mit dieser goldenen Zeit verknüpft.
Das Goldene Zeitalter ist wohl längst vorüber. Doch heißt es in manchen Mythen, Kronos herrsche immer noch, dieses Goldene Zeitalter sei nur in einer anderen Sphäre »am Rande der hiesigen Welt«.
Saturn, der Planet am äußersten Rand unseres Sonnensystems, ist mit dem bloßen Auge noch sichtbar. Interessanterweise besitzt er eine Sechseckstruktur an seinem Nordpol, wie Satellitenaufnahmen zeigen. Und eine solche Sechseckstruktur weisen auch die Sporenkolben der Schachtelhalme auf.
Saturn galt als weiser Alter, der am Rand des Einflusses unserer Sonne steht, um von dort die kosmischen Kräfte des Universums zu empfangen und auf die Erde zu strahlen. Ein Gott des Ackerbaus, der für Fleiß, Ordnung und Disziplin stand und die feuchten, wilden bis ausufernden Kräfte der dem Wasser zugeordneten Mondenergien ins Lot bringen konnte.
Vielleicht weil er so weit draußen steht und als so weise und alt galt, quasi über den Tellerrand unseres Universums hinausblickend, wurde er für wertfrei, also »harmlos«, nicht bewertend gehalten. Er stand über allen Dingen, hatte den Überblick, urteilte deshalb nicht, sondern brachte seelenruhig alles immer wieder in die göttliche Ordnung. Culpeper beschrieb die Saturnpflanze Schachtelhalm ebenfalls als »sehr harmlos«.
Die Wirkung des Saturn wurde als dem Winter ähnlich beschrieben, der die fließenden diffusen Wasserkräfte zu harten Eiskristallen formte, ordnete und trocknete, der die Vegetation regulierte, dem Leben einen Rhythmus gab und die Geschwindigkeit für eine Zeit bremste. So konnte eine Verschnaufpause eingelegt, mal ausgeruht und Zeit zur Besinnung gefunden werden. Saturn ist damit der coole Weise, der sagt: »Jetzt mach mal langsam, setz dich hin und komm zur Ruhe.« Denn er soll wohl wissen, dass alle Dinge aus der großen Stille, der absoluten Dunkelheit und Ruhe, dem Zentrum, entstanden und weiter entstehen.
Verwandt damit erklärte man sich die heilenden Wirkungen der Schachtelhalme auf alle Erkrankungen, bei denen etwas aus dem Lot geriet: Seien es zu feuchte oder »überfließende« Verhältnisse wie nässende Ekzeme, Blasenentzündungen, tränende Augen, zu starke Menstruation, Durchfälle oder im übertragenen Sinne aus dem Lot geratene Emotionen. Mehr zu den saturnischen Kräften im Schachtelhalm und deren Zusammenhang mit seinen Heilwirkungen wird bei Wolf-Dieter Storl auf spannende Weise in seinem Buch Heilkräuter und Zauberpflanzen zwischen Haustür und Gartentor (AT Verlag 2000) erklärt.
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