Ich frage mich, ob das mit der Häufigkeit des Kindesmissbrauchs in unserer Gesellschaft zusammenhängt. Sehr zurückhaltende Schätzungen gehen davon aus, dass 25% unserer Kinder Opfer emotionalen oder körperlichen (sexuellen) Missbrauchs werden bzw. unter Vernachlässigung leiden oder in Armut leben. Es gibt andere Schätzungen, denen zufolge 50% der Mädchen und 30% der Jungen sexuell missbraucht werden, nicht gerechnet die geschlagenen und vernachlässigten Kinder, aber seien wir konservativ, gehen wir von insgesamt einem Viertel Geschädigter aus. Eine Menge! Und es gibt viele Erwachsene, die in sich – wissentlich oder nicht – den Schmerz und die Angst fühlen, Täter zu sein.
Die Angst-Schreck-Reaktion ist die Antwort des Körpers auf Angst und Schmerz. Menschen, die missbraucht werden, und Menschen, die andere missbrauchen, bleiben im Moment des Missbrauchs stecken. Mit anderen Worten: Ihre Körper konservieren den Zustand der Angst-Schreck-Reaktion, bis sie Heilung erfahren.
Vielleicht halten wir die Angst-Schreck-Reaktion schon für normal oder sogar erstrebenswert, weil um uns herum jeder diesen Ausdruck und diese Haltung einzunehmen scheint. Es sieht eben richtig aus…
Jetzt wissen Sie, warum wir damit begonnen haben, Ihre Aufmerksamkeit auf die Entspannung Ihres Bauches zu richten: Dieser Anfang ist wichtig, um die Spannung im gesamten Körper zu verringern und den Boden für die nachfolgende Übung zu bereiten.
Weich atmen Praxis
Stehen Sie auf. Legen Sie sich die Hände auf den Bauch und nehmen Sie wahr, ob Sie Ihren Bauch beim Einatmen einziehen oder ausdehnen. Legen Sie dann ihre Hände auf Ihren unteren Rücken und auf den Brustkorb. Dehnen sich diese Bereiche aus, wenn Sie einatmen?
Entspannen Sie Ihren Bauch. Lassen Sie ihn entspannt, während Sie einatmen. Erlauben Sie der Luft, während des Einatmens sanft nach unten in den Bauch zu fallen und lassen Sie ihrem Bauch sich ausdehnen. (Selbstverständlich bleibt die Luft in den Lungen, aber dieses Bild wird Sie beim Spühren der Bewegung bis hinunter in den Bauch unterstützen.) Beim Atmen sollte der Fokus Ihrer Achtsamkeit auf den Bauch gerichtet sein, aber Sie sollten beim Einatmen auch Brustkorb und Rücken sich sanft ausdehnen lassen.
Wenn Sie während des Einatmens den Bauch einziehen, verhärten Sie Brustkorb, Bauch und Rücken und erzeugen so eine erhöhte Anspannung des gesamten Körpers. Sollten Sie daran gewöhnt sein, beim Einatmen den Bauch einzuziehen, wird sich ein entspannteres Atmen für Sie zunächst etwas seltsam anfühlen. Vielleicht machen Sie sogar die merkwürdige Erfahrung, dass sich das entspanntere Atmen mit dem Bauch zwar physiologisch richtig anfühlt, es Ihnen aber der ungewohnten Empfindung wegen geradezu unangenehm ist, bequemer und weniger angespannt zu atmen.
Falls Sie Schwierigkeiten haben, beim Einatmen mit dem Bauch nachzugeben, können Sie anfangs Ihren Bauch bei jedem Einatmen bewusst nach außen drücken. Auf diese Weise gewöhnen Sie sich an den veränderten Bewegungsrhythmus. Nach einer Weile werden Sie diese zusätzliche Anstrengung nicht mehr brauchen.
Manchen Menschen bereitet beides Schwierigkeiten: herauszufinden, wie sie ihren Bauch ausdehnen und wie sie ihn nach außen drücken können. Um das zu ändern, legen Sie sich auf den Boden, ein Kissen unter dem Kopf, ein weiteres unter ihren Knien. Legen Sie sich jetzt einen faustgroßen Stein (oder einen ähnlichen Gegenstand) unterhalb des Nabels auf den Bauch und konzentrieren Sie sich darauf, den Stein durch Ihr Einatmen anzuheben. Manchmal ist es hilfreich, den Stein erst mit dem Bauch hoch zu drücken und den Bauch dann herausgedrückt zu lassen, während Sie einatmen. Das kann zunächst anstrengen, aber nach und nach werden Sie eine Möglichkeit finden, Ihren Bauch mit Leichtigkeit auszudehnen.
Gehen Sie jetzt ein paar Schritte und atmen Sie dabei aus dem Bauch heraus. Wie fühlt sich diese Bewegung an?
Bauchatmung
Brustatmung
Atmen und sich ausdehnen ist – richtig praktiziert – sehr entspannend. Das Atmen kann wie eine sanfte, innere Massage wirken und, wenn Sie es zulassen, sehr angenehm sein. Die meisten Menschen, die anfangen, mit entspanntem Becken und weichem Atem zu gehen und sich zu bewegen, empfinden ihre Bewegungen als leichter, balancierter, graziöser, koordinierter und erdverbundener als zuvor.
Ziel dieses Kapitels war es, Ihnen erste Erfahrungen zu ermöglichen, wie Sie Ihre eigenen Körperprozesse dazu nutzen können, sich selbst zu verändern. Sie haben mit einem Zustand von Souveränität und Ganzheit Bekanntschaft geschlossen, der Ihnen ermöglichen wird, auf dem Weg der Heilung Ihres Missbrauchs voranzuschreiten. Im Laufe des Buches wird es darum gehen, Sie mit weiteren Elementen von Bewusstheit, Souveränität, Liebe und Sicherheit vertraut zu machen und in deren Anwendung zu ermutigen.
Sie können es schaffen. Sie können bisher für unmöglich gehaltene Veränderungen bewirken. Die einfachen Übungen, die Sie bis jetzt gemacht haben, sind der Anfang der Meisterschaft.
*Anm. d. Übersetzers: Paul Linden verwendet das amerikanische Wort „power“, das ich kontextabhängig von Fall zu Fall als Macht, Stärke oder Kraft übersetzt habe. Das amerikanische Wort „Empowerment“ wurde hier zuweilen auch als „Souveränität“ übersetzt, im Sinne von Eigenständigkeit, Selbstständigkeit und eigener Handlungsmacht.
3Die Konzepte im Hintergrund
Zum besseren Verständnis dessen, was wir in diesem Buch gemeinsam tun wollen, werde ich Ihnen in diesem Kapitel einige Hintergrundinformationen über die Grundlagen meiner Arbeit geben. Je mehr Sie den von uns genutzten Lehr- und Lernprozess verstehen, desto schnellere und profundere Fortschritte werden Sie persönlich machen.
Being in Movement® Mindbody Training
Ich bin Körpererzieher und Kampfkunstlehrer. Seit fast 40 Jahren übe und unterrichte ich Körperwahrnehmung und Bewegung als Weg zum Verständnis des eigenen Selbst, zu Harmonie und Effizienz. Ich habe ein systematisches Körperbewusstseinstraining entwickelt, das ich Being in Movement (BIM) nenne – in Bewegung sein – und das die Basis meines Ansatzes in der Arbeit mit Missbrauchsverarbeitung bildet.
BIM ist ein Erziehungsprozess, in dem damit gearbeitet wird, wie Struktur und Funktion des Körpers das Selbstgefühl formen und wie sie ihrerseits durch dieses Selbstgefühl geformt werden. BIM untersucht das Selbst in der Welt, indem das Zusammenwirken von Muskelstrukturen und -funktionen, von Gedanken, Gefühlen und Glaubenssätzen, von Strategien der Problemlösung und von ethischem Verhalten individuell untersucht wird.
BIM betrachtet den Körper einerseits als ein mechanisches Objekt, das durch die Gesetze der Physik und Biologie bestimmt wird. Gleichzeitig ist die Physis als subjektiver Prozess anzusehen, anhand dessen Sie sich selbst so wahrzunehmen lernen, dass Sie dauerhaft ein ganzheitliches körper-seelisches Selbstgefühl entwickeln, aus dem heraus Sie effektiv handeln können. Strukturell betrachtet ist in diesem Zustand das Muskel- und Skelettsystem balanciert, schmerz- und stressfrei. Funktional gesehen erlaubt dies stabile, variantenreiche und ausgeglichene Bewegungen. Im Hinblick auf Handlungsabsicht und Energiehaushalt befähigt uns dieser Zustand strahlender Präsenz, symmetrischer, expansiver Willenskraft und selbstbewusster Achtsamkeit, fest verankert im eigenen Selbst hinaus in die Welt zu gehen. Psychologisch oder spirituell gesprochen ist das Ziel die Integration von Macht und Liebe. *
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