Um alle schillernden und funkelnden, dunklen und verborgenen Facetten des philosophischen Mercurius darzustellen, reicht das Monströse knapp aus. Einen beachtlichen Versuch, mercurius philosophorum in einem Wesen zusammenzufassen, unternahm Giovanni Battista Nazari, dessen dreiköpfigen, viergesichtigen, verschlungenen Mercurius-Drachen man als Meisterleistung der symbolischen Synthese bewundern muss (vgl. Nazari 1572).
Dem Einzelbild mangelt die Dynamik, welche der Bilderzyklus des Rosariums zu vermitteln vermag, in dem der Mercurius-Hermaphrodit in immer neuen Variationen gezeigt wird – dafür ist die Gefährlichkeit des Mercurius bei Nazari umso eindringlicher vor Augen geführt.
Erscheinungsformen des Hermaphroditen im Rosarium, weibliche Hälfte markiert. In den Originalbildern sind nur RosPhil 10 und 17 stehend, die anderen liegend, um neunzig Grad im Gegenuhrzeigersinn gedreht. (Hofmeier 2014: 111)
Mehrköpfiges Mercurius-Monster mit Flügelschuhen und Fledermausflügeln. (Nazari, Della tramutiatione, 1599)
Wie wenig inspiriert wirkt dagegen die Darstellungsweise der modernen Chemie, die ihre Elemente zwar noch immer mit den lateinischen (alchemischen) Namen versieht, ihre Eigenschaften jedoch durch nüchterne Zahlen ausdrückt.
Aber ist es Zufall, dass Gold und Blei, als Anfang und Ende der alchemischen Metallreifung im Periodensystem der Chemie nebeneinander stehen? Trotz geradezu allergischer Abwehr gegen sie kann die Chemie ihre Herkunft von der Alchemie nicht leugnen.
Mercurius ist auch reales Quecksilber, dessen auffällige chemisch-physikalischen Eigenschaften Anlass für manches alchemische Symbol und letztlich für die Wahl dieses Metalls als grundlegenden Werkstoff im Laboratorium, ja gar als Bezeichnung eines alles durchdringenden Prinzips gaben. Seit den Tagen, als Zosimos die Theorie vom Körper und Geist der Metalle in die Alchemie einbrachte, wonach allen Metallen ein identischer Körper eigen ist, während der Geist ihnen unterschiedliche Eigenschaften wie Farbe, Härte und so weiter verleiht, kommt Quecksilber eine Sonderrolle zu. Schwer wie Blei, flüchtiger als Wasser und äußerst verbindungsfreudig ist Quecksilber das perfekte Beispiel für die Theorie des Zosimos, der auch erstmals die Bezeichnung Hermaphrodit für Quecksilber oder wohl eher »mercurius philosophorum«, »unser Quecksilber« verwendet (vgl. Hofmeier 2014: 112).
Elemente Gold und Quecksilber nach der Periodentabelle der modernen Chemie. (Hofmeier 2014: 112)
Alchimia practica
Nach dem gleichen Muster der additiven statt substitutiven Theoriebildung (reine Quecksilber- versus Quecksilber-Schwefel-Theorie) brach die alchemische Tradition der sieben Metalle nicht ab, als neue Metalle, wie zum Beispiel das Antimon, auf den Plan traten (vgl. Hofmeier 2008). Im Gegenteil, es waren Alchemisten, die fortan Bücher zum Antimon schrieben – allen voran der geheimnisvolle Basilius Valentinus. Das Sowohl-als-Auch anstelle des Entweder-Oder, welches die alchemische Theorie prägt, galt in gleichem Maß für ihre Ausdrucksweise in Wort und Bild. Landläufig wird der Arkancharakter der alchemischen Kommunikation, die sich ungezählter Decknamen, verwirrender Metaphern und Allegorien bediente, um ihr Wissen vor Unbefugten geheim zu halten, betont. Dies wird der Tatsache nicht gerecht, dass die alchemische Art und Weise, sprachlich und visuell schwer nachvollziehbare Phänomene darzustellen, auch eine Verständnishilfe sein kann. Dabei soll die gezielte Geheimhaltung keineswegs geleugnet werden, die die Alchemisten immer wieder ausdrücklich forderten und überzeugend demonstrierten, aber auch bereits im 12. Jahrhundert als Hemmnis beklagten (vgl. Hofmeier 2014: 80–81; Bachmann/Hofmeier 1999: 9–13; Hofmeier 2017: 23–25).
Zuweilen liegt aber gerade in der Komplexität einer alchemischen Schilderung der Schlüssel zum Verständnis eines Sachverhalts. Bis vor Kurzem hielt man die Zwölf Schlüssel von Basilius Valentinus oder das Rosarium , beides Werke voller Allegorien in Wort und Bild, für im besten Fall unverständlich, im schlimmsten Fall Nonsens. Beim Versuch, Basilius’ Anleitungen im Laboratorium nachzuvollziehen, stellte der Alchemiehistoriker Lawrence Principe allerdings fest, dass seine Resultate umso besser wurden, je exakter er sich an die skurrilen Anweisungen des pseudonymen Alchemisten hielt, und je unreiner die Ausgangsstoffe waren. Mit reinen Substanzen und handelsüblichen Apparaten aus dem Angebot des modernen Chemikalienhandels war Principe kein Erfolg vergönnt. Erst als er getreu den Angaben in den Zwölf Schlüsseln des Basilius »ungarisches Antimon« statt chemisch reines Antimon verarbeitete, traten die vom Alchemisten beschriebenen Effekte auf (vgl. Principe, S. 137–157).
Metalle dominieren die Alchemie von den Urgründen im alten Orient und Ägypten, über die Schriften des Zosimos, zum metallurgischen Grundlagenwerk Gebers Summa perfectionis magisterii in sua natura … – das ein veritables Handbuch der experimentellen Metallurgie ist – bis hin zum noch von Newton hochgeschätzten Rosarium – dem Musterbeispiel transmutatorisch-philosophischer Spitzenalchemie für Fortgeschrittene. Alchemie der Metalle kann nüchtern praktisch daherkommen, wie bei Geber – weshalb er von manchen modernen Alchemiekritikern nicht zu den Alchemisten gezählt wird, weil seine Anleitungen im Labor nachvollziehbar sind – oder allegorisch derart verklausuliert wie das Rosarium , dass ein einhelliges Verständnis von Inhalt, Zweck und Deutung in weiter Ferne liegt.
Was die praktische Anwendung angeht, darf Paracelsus nicht ausgelassen werden. Er hat metallische Pharmazie zwar nicht erfunden, sie aber wortgewaltig und lautstark propagiert. Paracelsus wies den Weg von der reinen Kräutermedizin der Mönche hin zur alchemischen Breitband-Pharmazie unter Einsatz aller Mittel – auch und gerade der Metalle.
Ob reales Gold in der Retorte zu aurum potabile verkocht wird; ob philosophisches Gold in spekulativ philosophischen Übungen mehr Symbol als Materie ist; oder nicht zuletzt, ob die berüchtigte Goldmacherei durch Transmutation Reichtum verspricht und oft Ruin bedeutet: Alchemie förderte auf vielfältige Weise den wissenschaftlichen Fortschritt. Praktisch durch konkrete materielle, technische und chemische Errungenschaften, theoretisch durch den Anreiz, Grenzen auszuloten, und ganz allgemein durch das stete Streben nach Verbesserung der Welt. Alchemie war und ist getrieben vom Drang, den Aufbau der Welt, die Funktionsweise der Natur und das Zusammenspiel von Oben und Unten zu verstehen und basierend auf diesem Verständnis zu manipulieren. Dazu muss der wahre Alchemist sich spirituell läutern, wie das Gold im Feuer.
»Der Baum aller Metallen« (aus: Martin Sturtz, De humido radicali, 1597). Auffallend sind die Zahlen 10, 100, 1000 am unteren Bildrand, die ein Hinweis auf eine schrittweise Vergeistigung sind, wie sie später Samuel Hahnemann in der Potenzierungsidee der Homöopathie weiter ausführte.
Der Baum der Metalle
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