Sir Arthur Conan Doyle - Das Zeichen der Vier

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"Nichts ist trügerischer als eine offenkundige Tatsache" (Sherlock Holmes).
"Im Jahr 1878 hatte ich meinen Doktor an der Medizinischen Fakultät der Universität London gemacht und im Royal Victoria Military Hospital Netley die für Militärärzte vorgeschriebene medizinische Spezialausbildung absolviert." – So beginnt ein Mythos. Sir Arthur Conan Doyles Detektivgeschichten wurden oft kopiert, vielfach verfilmt und mehr als einmal fürs Fernsehen adaptiert. Aber woher rührt eigentlich die Faszination für den kühlen Logiker Sherlock Holmes und seinen Kompagnon Dr. Watson?
Viermal ließ der britische Autor sein berühmtes Duo insgesamt auf Romanlänge ermitteln, jeder Band avancierte rasch zum Klassiker der Kriminalliteratur.
Der zweite Fall mit dem Originaltitel The Sign of Four erschien erstmalig 1890 in «Lippincott's Monthly Magazine». Er liegt hier in vollständiger Neuübersetzung von Susanne Luber vor. Dazu gibt's ein Kompendium zum Holmes-Kosmos mit einem Who's who, einer Einführung in den Kriminalroman von Joachim Kalka und einer Doyle-Chronik

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Der Anblick der Räume, in die wir gebeten wurden, setzte uns alle in Erstaunen. In diesem schäbigen Haus wirkten sie so fehl am Platz wie ein Diamant reinsten Wassers in einer Fassung von Messing. Üppigste schimmernde Vorhänge und Wandteppiche bedeckten die Wände und waren nur hier und da gerafft, um den Blick auf ein kostbar gerahmtes Gemälde oder eine orientalische Vase freizugeben. Der Teppich war in Bernsteinfarben und Schwarz gehalten und so dick, dass der Fuß wohlig darin versank wie in einem weichen Moospolster. Zwei große, quer darüber gebreitete Tigerfelle steigerten noch den Eindruck von orientalischem Luxus, ebenso eine gewaltige indische Wasserpfeife, die auf einer Matte in der Ecke stand. In der Mitte des Zimmers hing an einem fast unsichtbaren Golddraht eine brennende Lampe in Form einer silbernen Taube, die die Luft mit einem feinen aromatischen Duft erfüllte.

»Mr Thaddeus Sholto«, stellte sich der kleine Mann unter anhaltendem nervösen Zucken und Lächeln vor. »So lautet mein Name. Sie sind natürlich Miss Morstan, und diese beiden Gentlemen –«

»Dies ist Mr Sherlock Holmes, und dies ist Doktor Watson.«

»Ein Arzt?« rief er begeistert. »Haben Sie Ihr Stethoskop dabei? Dürfte ich Sie wohl bitten – würden Sie die Freundlichkeit haben? Ich mache mir ernste Sorgen wegen meiner Mitralklappe – wenn Sie so ungemein freundlich sein würden! Der Aortenklappe kann ich wohl noch trauen, aber ich wäre Ihnen überaus verbunden für Ihre Meinung über meine Mitralklappe.«

Ich folgte seinem Wunsch und horchte sein Herz ab, konnte aber nichts Ungewöhnliches feststellen, abgesehen von der Tatsache, dass er offenbar vor Furcht außer sich war, denn er zitterte am ganzen Leibe.

»Es hört sich alles ganz normal an«, erklärte ich. »Sie haben keinen Grund zur Beunruhigung.«

»Sie werden meine Besorgnis verzeihen, Miss Morstan«, sagte er scheinbar leichthin. »Aber ich bin eine Beute vieler Krankheiten und misstraue dieser Herzklappe schon seit längerer Zeit. Es erleichtert mich ungemein, zu hören, dass diese Sorge unbegründet ist. Hätte Ihr Vater, Miss Morstan, es vermieden, seinem Herzen zu viel zuzumuten, dann wäre er vielleicht heute noch am Leben.«

Ich hätte dem Mann ins Gesicht schlagen können vor Zorn über die herzlose, beiläufige Art und Weise, mit der er ein so heikles Thema berührte. Miss Morstan sank auf einen Stuhl, und ihr Gesicht wurde bleich bis in die Lippen.

»Ich wusste in meinem Herzen, dass er tot ist«, sagte sie.

»Ich kann Ihnen alle Einzelheiten erzählen«, sagte er, »und noch mehr: Ich kann Ihnen zu Ihrem Recht verhelfen, und das werde ich tun, was auch immer Bruder Bartholomew dazu sagen mag. Ich bin so froh, dass Ihre Freunde hier sind – nicht nur als Ihr Begleitschutz, sondern auch als Zeugen für das, was ich zu sagen habe und was ich tun werde. Zu dritt können wir Bruder Bartholomew getrost die Stirn bieten. Aber bitte ziehen Sie keine Außenstehenden hinzu – Polizei oder andere Amtspersonen. Wir können alles sehr zufriedenstellend unter uns regeln, ohne irgendwelche Einmischung von außen. Nichts würde Bruder Bartholomew mehr verärgern als die geringste öffentliche Aufmerksamkeit.«

Er nahm auf einem niedrigen Sofa Platz und blinzelte uns aus seinen schwachen, wässrig-blauen Augen fragend an.

»Was mich anbelangt«, erwiderte Holmes, »so wird alles, was auch immer Sie sagen, unter uns bleiben.«

Ich nickte als Zeichen der Zustimmung mit dem Kopf.

»Sehr gut! Bestens!« rief er. »Darf ich Ihnen ein Glas Chianti anbieten, Miss Morstan? Oder Tokayer? Andere Weine habe ich leider nicht im Haus. Soll ich eine Flasche öffnen? Nein? Nun, dann hoffe ich, dass Sie nichts gegen Tabakrauch einzuwenden haben, gegen den balsamischen Wohlgeruch orientalischen Tabaks. Ich bin ein wenig nervös veranlagt, und meine Huka ist mir ein unschätzbares Sedativum.«

Er hielt ein brennendes Wachslicht an den weiten Pfeifenkopf, und schon gluckerte der Rauch munter durch das Rosenwasser. Wir drei saßen im Halbkreis, vorgebeugt und das Kinn in die Hand gestützt, vor dem seltsamen, zappeligen kleinen Mann mit dem hohen, glänzenden Schädel, der nervös seine Pfeife paffte.

»Als ich mich entschloss, mit Ihnen in Verbindung zu treten«, begann er seinen Bericht, »hätte ich Ihnen natürlich auch meine Adresse nennen können. Aber ich fürchtete, Sie könnten meine Bitte ignorieren und Leute hierher bringen, die mir nicht angenehm wären. Deshalb nahm ich mir die Freiheit heraus, unser Treffen so zu arrangieren, dass mein Diener Williams Gelegenheit hatte, Sie erst zu begutachten. Ich habe volles Vertrauen in seine Diskretion, und er hatte Anweisung, sich sofort zurückzuziehen, falls ihm irgend etwas verdächtig erscheinen sollte. Sie werden diese Vorsichtsmaßnahme hoffentlich entschuldigen, aber ich bin ein Mensch von zurückgezogener, ich möchte sogar sagen: von verfeinerter Lebensart, und für mich gibt es nichts Unästhetischeres als einen Polizisten. Ich habe eine angeborene Abneigung gegen jede Form von rohem Materialismus. Mit der groben Volksmasse komme ich nur selten in Berührung. Wie Sie sehen, lebe ich in meiner eigenen kleinen Welt erlesener Schönheit. Ich darf mich wohl einen Förderer der Künste nennen. Das ist eine kleine Schwäche von mir. Diese Landschaft dort ist ein echter Corot, und selbst wenn ein Fachmann vielleicht den Schatten eines Zweifels auf die Echtheit jenes Salvator Rosa werfen könnte, so ist dieser Bouguereau dort über jeden Zweifel erhaben. Ich hege eine Vorliebe für die moderne französische Schule.«

»Entschuldigen Sie bitte, Mr Sholto«, unterbrach ihn Miss Morstan, »aber ich bin eigens auf Ihre Aufforderung hierher gekommen, um etwas zu erfahren, was Sie mir mitteilen wollen. Der Abend ist schon fortgeschritten, und ich möchte Sie bitten, unsere Unterredung so kurz wie möglich zu halten.«

»Eine Weile dauern wird es auf alle Fälle«, entgegnete er, »denn wir müssen natürlich nach Norwood fahren und Bruder Bartholomew einen Besuch abstatten. Wir werden alle zusammen hinfahren und versuchen, mit Bruder Bartholomew fertigzuwerden. Er ist sehr verärgert, weil ich diesen Weg eingeschlagen habe, der mir der richtige zu sein schien. Gestern Abend hatten wir deshalb einen recht heftigen Wortwechsel. Sie können sich gar nicht vorstellen, was für ein schrecklicher Mensch er sein kann, wenn er böse wird.«

»Wenn wir jetzt noch nach Norwood fahren müssen, täten wir sicherlich gut daran, sogleich aufzubrechen«, erlaubte ich mir zu bemerken.

Er lachte laut auf, bis seine Ohren rot wurden.

»Wo denken Sie hin?« rief er. »Ich möchte nicht wissen, was er sagen würde, wenn wir ihm einfach so ins Haus fallen. Nein, ich muss Sie erst vorbereiten, und dafür müssen Sie erfahren, wie wir zueinander stehen. Aber zu allererst muss ich sagen, dass es in dieser Geschichte einige Punkte gibt, die mir selbst nicht klar sind. Ich kann Ihnen lediglich die Tatsachen unterbreiten, soweit sie mir bekannt sind.

Mein Vater war, wie Sie gewiss schon vermutet haben, John Sholto, ehemals Major in der Britisch-Indischen Armee. Vor gut elf Jahren nahm er seinen Abschied und zog sich nach Pondicherry Lodge in Upper Norwood zurück, um dort seinen Ruhestand zu verleben. Er hatte in Indien prosperiert und brachte ein ansehnliches Vermögen, eine große Sammlung wertvoller Antiquitäten und seine indische Dienerschaft mit nach England. Mit diesem Kapital konnte er ein Haus erwerben und in beträchtlichem Wohlstand leben. Mein Zwillingsbruder Bartholomew und ich sind seine einzigen Kinder.

Ich erinnere mich sehr gut, welches Aufsehen das Verschwinden von Captain Morstan damals erregte. Wir lasen alle Einzelheiten in der Zeitung, und da wir wussten, dass er ein Freund unseres Vaters gewesen war, unterhielten wir uns in seiner Gegenwart darüber, und er beteiligte sich an unseren Mutmaßungen, was Morstan wohl zugestoßen sein könnte. Niemals hätten wir es für möglich gehalten, dass das Geheimnis in seiner Brust verborgen lag und dass er der einzige noch lebende Mensch auf der Welt war, der das Schicksal von Arthur Morstan kannte.

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