Sir Arthur Conan Doyle - Das Zeichen der Vier

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"Nichts ist trügerischer als eine offenkundige Tatsache" (Sherlock Holmes).
"Im Jahr 1878 hatte ich meinen Doktor an der Medizinischen Fakultät der Universität London gemacht und im Royal Victoria Military Hospital Netley die für Militärärzte vorgeschriebene medizinische Spezialausbildung absolviert." – So beginnt ein Mythos. Sir Arthur Conan Doyles Detektivgeschichten wurden oft kopiert, vielfach verfilmt und mehr als einmal fürs Fernsehen adaptiert. Aber woher rührt eigentlich die Faszination für den kühlen Logiker Sherlock Holmes und seinen Kompagnon Dr. Watson?
Viermal ließ der britische Autor sein berühmtes Duo insgesamt auf Romanlänge ermitteln, jeder Band avancierte rasch zum Klassiker der Kriminalliteratur.
Der zweite Fall mit dem Originaltitel The Sign of Four erschien erstmalig 1890 in «Lippincott's Monthly Magazine». Er liegt hier in vollständiger Neuübersetzung von Susanne Luber vor. Dazu gibt's ein Kompendium zum Holmes-Kosmos mit einem Who's who, einer Einführung in den Kriminalroman von Joachim Kalka und einer Doyle-Chronik

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»Bewahren Sie es gut auf, Miss Morstan, es wird uns vielleicht noch von Nutzen sein. Ich beginne zu vermuten, dass dieser Fall sich als wesentlich diffiziler und hintergründiger erweisen könnte, als ich zunächst gedacht hatte. Das muss ich neu überdenken.«

Er lehnte sich in die Wagenpolster zurück, und ich sah an seinen zusammengezogenen Brauen und seinem abwesenden Blick, dass er scharf nachdachte. Miss Morstan und ich unterhielten uns mit gedämpfter Stimme über unsere nächtliche Unternehmung und was sie wohl bringen würde, unser Gefährte dagegen verharrte bis zum Ende der Fahrt in undurchdringlichem Schweigen.

Es war ein Septemberabend und noch nicht einmal sieben Uhr, aber es war ein trüber Tag gewesen, und jetzt lag ein dicker, nasser Nebel über der großen Stadt. Schmutzigfarbene Wolken hingen trist über schmutzigen Straßen. Die Laternen rechts und links des Strand waren zu matten, diffusen Punkten geschrumpft, welche schwache Lichtkreise auf das nasse Pflaster warfen. Aus den Schaufenstern der Geschäfte strömte helles Licht in die dunstige Nebelluft hinaus und zeichnete trübe, rasch wechselnde Muster auf die von vielen Menschen belebte Straße. Es hatte etwas Unheimliches, fast Gespenstisches, diese endlose Prozession von Gesichtern durch diese schmalen Lichtstreifen huschen zu sehen – traurige und frohe, verhärmte und heitere. Sie glitten aus dem Dunkel ins Licht und wieder zurück ins Dunkel, wie es der Menschen Los ist. Ich bin sonst nicht leicht Stimmungen unterworfen, aber dieser trübe, dunkle Abend, verbunden mit dem geheimnisvollen Abenteuer, auf das wir uns eingelassen hatten, machte mich nervös und bedrückt. Miss Morstan war unschwer anzusehen, dass sie das Gleiche empfand. Nur Holmes war über solche flüchtigen Eindrücke erhaben. Er hielt ein aufgeschlagenes Notizbuch auf den Knien, in das er im Licht seiner Taschenlampe ab und zu Ziffern und Notizen eintrug.

An den Seiteneingängen des Lyceum Theatre standen die Menschen bereits dicht gedrängt. Vor dem Haupteingang fuhren in dichter Folge zwei- und vierrädrige Wagen vor, denen Herren mit steifer Hemdbrust und in Shawls gehüllte, diamantenbehängte Damen entstiegen. Wir hatten die dritte Säule, den Ort unseres Stelldicheins, kaum erreicht, da wurden wir von einem klein gewachsenen, kräftigen dunkelhaarigen Mann in Kutscherkleidung angesprochen.

»Sind Sie die Herrschaften, die Miss Morstan begleiten?« fragte er.

»Ich bin Miss Morstan, und diese beiden Gentlemen sind meine Freunde«, antwortete sie.

Zwei seltsam durchdringende Augen musterten uns mit scharfem Blick.

»Sie müssen schon entschuldigen, Miss«, sagte er mit störrischer Miene. »Aber ich habe Anweisung, mir Ihr Wort geben zu lassen, dass keiner Ihrer Begleiter von der Polizei ist.«

»Darauf kann ich Ihnen mein Wort geben«, lautete ihre Antwort.

Er ließ einen scharfen Pfiff ertönen, woraufhin ein Gassenjunge eine Kutsche heranführte und den Schlag öffnete. Der Mann, der uns angesprochen hatte, schwang sich auf den Bock, während wir unsere Plätze im Wageninnern einnahmen. Wir saßen kaum, da ließ der Kutscher die Peitsche auf dem Rücken des Pferdes spielen, und los ging die rasche Fahrt durch die nebeltrüben Straßen.

Es war eine eigentümliche Situation. Wir fuhren mit unbekanntem Auftrag einem unbekannten Ziel entgegen. Entweder war diese Einladung nichts als ein schlechter Scherz – was als Hypothese kaum haltbar war –, oder wir hatten Grund anzunehmen, dass unsere Expedition wichtige Enthüllungen bringen würde. Miss Morstans Haltung blieb entschlossen und gefasst wie zuvor. Ich versuchte zwar, sie durch Erzählungen von meinen afghanischen Abenteuern abzulenken und ein wenig aufzuheitern, aber ehrlich gesagt war ich selbst in dieser Situation so aufgeregt und so gespannt auf die Dinge, die auf uns zukamen, dass meine Darstellung gelegentlich etwas durcheinander geriet. Noch heute behauptet sie, ich hätte ihr eine ergreifende Anekdote erzählt, wie mitten in der Nacht eine Muskete in mein Zelt geschaut hätte und ich ein doppelläufiges Tigerjunges darauf abgefeuert hätte. Zunächst war ich noch in der Lage, einigermaßen die Richtung zu verfolgen, in die wir fuhren, aber schon bald – kein Wunder bei der Schnelligkeit der Fahrt, bei dem Nebel und bei meiner beschränkten Kenntnis von London – hatte ich die Orientierung gänzlich verloren und bemerkte nur noch, dass die Strecke, die wir zurücklegten, offenbar sehr lang war. Sherlock Holmes hingegen war keinen Moment im Zweifel. Während die Kutsche über offene Plätze und durch zahllose Querstraßen und Gassen ratterte, murmelte er die Straßennamen vor sich hin:

»Rochester Row. Nun Vincent Square. Jetzt kommen wir bei der Vauxhall Bridge Road heraus. Wir fahren wohl auf die Surrey-Seite hinüber. Richtig, das dachte ich mir. Jetzt sind wir auf der Brücke. Sehen Sie, hier kann man einen Blick auf den Fluss erhaschen.«

Tatsächlich war für einen flüchtigen Augenblick das breite, ruhig fließende Wasser der Themse zu erkennen, auf dem sich die Lampenlichter spiegelten, aber unsere Kutsche jagte weiter, in das Straßenlabyrinth der jenseitigen Themseseite hinein.

»Wordsworth Road«, bemerkte mein Gefährte. »Priory Road. Lark Hall Lane. Stockwell Place. Robert Street. Cold Harbour Lane. Unsere Reise scheint uns nicht gerade in die vornehmsten Stadtteile zu führen.«

Tatsächlich hatten wir eine zweifelhafte, wenig anziehende Gegend erreicht. Lange Reihen düsterer Backsteinhäuser wurden nur durch den schäbigen Glanz grell erleuchteter Eckkneipen unterbrochen. Darauf folgten Straßen mit zweistöckigen Doppelhäusern, jedes mit einem winzigen Vorgärtchen, und dann wieder endlose Reihen nagelneuer, geschmackloser Ziegelbauten – sie wirkten wie monströse Fangarme, welche die Riesenstadt in ihre ländliche Umgebung hinein ausstreckte. Endlich hielt der Wagen vor dem dritten Haus einer neu gebauten Reihenhaussiedlung. Keins der Nachbarhäuser war bewohnt, und das, vor dem wir standen, war genauso stockdunkel wie die anderen, lediglich im Küchenfenster war ein schwacher Lichtschein zu sehen. Auf unser Klopfen hin wurde die Tür jedoch augenblicklich aufgerissen – von einem Hindu-Diener mit gelbem Turban, weitem weißen Gewand und einer gelben Schärpe. Etwas absurd Unpassendes lag in dieser orientalischen Gestalt, die da in der prosaischen Eingangstür eines drittklassigen Vorstadthauses stand.

»Der Sahib erwartet Sie«, sagte er, und noch während er sprach, ertönte aus dem Innern des Hauses eine hohe, dünne Stimme.

»Führe sie zu mir herein, Khitmutgar«, piepste sie. »Führe sie gleich zu mir herein.«

4. KAPITEL

Die Erzählung des kahlköpfigen Mannes

Wir folgten dem Inder durch einen schäbigen, ordinären Flur, der armselig beleuchtet und noch armseliger möbliert war, bis zu einer Tür auf der rechten Seite, die er aufstieß. Blendend helles Licht strömte uns entgegen, und mitten im Licht stand ein kleiner Mann, dessen ungewöhnlich hoher Schädel von einem Kranz borstiger roter Haare umgeben war, aus dem eine glänzende Glatze aufragte wie ein Berggipfel aus einem Tannenwald. Er rang unablässig die Hände, und über sein Gesicht lief unaufhörlich ein Zucken – mal freundlich, mal missmutig, aber niemals fand seine Miene für einen Augenblick Ruhe. Die Natur hatte ihm eine hängende Unterlippe und eine allzu sichtbare Reihe gelber, un-regelmäßiger Zähne verliehen, welche er vergeblich zu verbergen suchte, indem er sich ständig mit der Hand über die untere Gesichtshälfte fuhr. Trotz der auffälligen Glatze machte er noch einen jugendlichen Eindruck. Tatsächlich hatte er gerade erst sein dreißigstes Lebensjahr vollendet.

»Ihr Diener, Miss Morstan«, wiederholte er gebetsmühlenartig mit seiner hohen, dünnen Stimme. »Ihr Diener, Gentlemen. Bitte, treten Sie ein in mein kleines Sanktum. Es ist klein, Miss, aber nach meinem Geschmack eingerichtet. Eine Oase der Kunst in der unkultivierten Einöde von Südlondon.«

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