Offen ist die Frage, ob die Borreliose entgegen landläufiger Behauptungen auch von Mensch zu Mensch übertragbar ist. Durch Bluttransfusionen ist es auf jeden Fall möglich, und eine Übertragung bei Organspenden oder von der Mutter auf den Embryo ist sehr wahrscheinlich. Es gibt Untersuchungen, die Borrelia-Spirochäten in Sexualsekreten, Sperma, Tränen, Urin sowie Muttermilch nachgewiesen haben. Einige Experten behaupten sogar, es gebe klinische Beweise für eine sexuelle Übertragung der Borreliose und dass die Ehepartner Infizierter immer auch serologisch positiv getestet werden (Harvey, W.T. und P. Salvato 2003: 746). Und die Forscherin Dr. Lida Mattmann, Yale-Absolventin und Direktorin eines medizinischen Forschungsinstituts in Michigan, glaubt sogar, dass schon die einfache Berührung genügt, um Borreliosekeime zu übertragen; Kugelschreiber, Händeschütteln oder das Berühren von Türklinken könnten gefährlich sein – wahrscheinlich handelt es sich dabei um den typisch amerikanischen Bazillenwahn (Patricia Kane, »Detoxifying Lyme«, 2004, www.springboard4health.com). Wieder einmal sehen wir: Es wird viel gemutmaßt und wenig gewusst.
Auch unsere Haustiere – Hunde, Katzen, Rinder, Pferde und Kühe – können von der Spirochäte befallen werden. Eine Studie 21in der Schweiz zeigte, dass ungefähr ein Drittel der untersuchten Kühe positiv auf Borrelien-Antikörper getestet wurden. Die positiv getesteten Kühe zeigten aber keine offensichtlichen Symptome. Auch die Milch enthielt die Antikörper. Daher stellte sich die Frage, ob sich die Borreliose auch durch Fleisch- und Milchgenuss ausbreiten könnte.
Es scheint also, dass die Borrelien in den letzten Jahren den Kreis ihres Wirkungsfeldes auf weitere Säugetierarten erweitert haben als nur Rehe und Nagetiere. Borrelien gibt es schon lange, schon seit vielen Hunderten von Millionen Jahren. Heutzutage scheinen sie aber durch Selektionsdruck schneller zu mutieren und weitere Wirtsorganismen zu besiedeln.
Die Borrelien-Spirochäte
Schauen wir uns nun das winzige Tierchen genauer an, das von Zecken auf Mensch und Säugetier übertragen werden kann. Das nach Willy Burgdorfer Borrelia burgdorferi genannte schlangenförmige Bakterium ist eine mit der Syphilis (Treponema pallidum) verwandte Spirochäte. Ihren Gattungsnamen Borrelia verdankt sie dem Straßburger Bakteriologen Amédée Borrell, der sie im Jahr 1905 als Erster entdeckte.
Die Borrelien, von denen es weltweit rund 300 Stämme gibt, sind biologische Wunder. Sie sind komplizierter als ihre Vettern, die Syphilis-, Pinta- 22oder Frambösie- 23Spirochäten: 24Sie sind echte »Guerillakämpfer«, die vom schulmedizinischen Pentagon aus gesehen einen asymmetrischen Terrorkrieg gegen uns führen. Hier einige ihrer verblüffenden kennzeichnenden Merkmale:
• In ihrer Zellwand befinden sich 21 Plasmiden, kleine ringförmige Gebilde, die eigene Gene besitzen und die Fähigkeit haben, den Bakterien Informationen über die Immunabwehr verschiedener Wirte zukommen zu lassen und – im zunehmenden Maß – Antibiotikaresistenz zu vermitteln. Eine derart hohe Anzahl von Plasmiden findet sich in keinem anderen Bakterium.
• Borrelien sind hochspezialisiert, lassen sich kaum im Labor züchten und daher auch schwer untersuchen.
Borrelie: eine schlangenförmige Spirochäte (Foto: M. A. Pabst, Graz) .
Borrelienspirochäten können sich durch jedes Körpergewebe schrauben (Foto: M. A. Pabst, Graz) .
• Sie haben drei Hüllen, wobei die äußere Zellwand, ähnlich wie bei anderen Bakterienarten, aus einer schleimigen Schicht von Oberflächenproteinen (bakterielle Lipoproteine BLP) besteht. Dieser »Schleimmantel« schützt sie vor den T-Zellen des Immunsystems. Der Mantel wirkt wie eine Tarnkappe; Antikörper und Fresszellen können sie daher nicht als fremd (als Antigen) erkennen. Bei gewöhnlichen gram-negativen 25Bakterien sind diese Oberflächenproteine in lediglich drei Genen verschlüsselt, bei den Borrelien aber sind 150 Gene beteiligt. 26Diese Gene erlauben es ihnen, ihre Erkennungsmerkmale, ihre Antigene, fortwährend und augenblicklich zu verändern. Die 150 Gene bewirken auch, dass die Borrelien sich an verschiedene Umweltfaktoren (z.B. Temperaturunterschiede, pH-Schwankungen, innerkörperliches Milieu der verschiedenen Organismen, die sie besiedeln) anpassen können.
• Je nach den Bedingungen ihrer Umwelt können Borrelien verschiedene Formen annehmen. Neben der normalen spiraligen Spirochätenform können sie, wenn ihre Umwelt mit Antibiotika verseucht ist, ihre Zellwand auch abwerfen und zur Kugel werden. In ihrer Kugelform (auch L-Form genannt) werden sie nicht von Immunzellen erkannt; sie haben dann sozusagen keine »Gesichtsmerkmale«, keine Antigene, an denen sie erkannt werden können. Sie können sich auch innerhalb von einer Minute verkapseln. In dieser »Kapsel- oder Sporenform« (cystic form) können sie wie in einem Dornröschenschlaf verharren, bis sich das Milieu für sie verbessert. In der Verkapselung sind sie, ohne Stoffwechsel und Teilung, mindestens zehn Monate lebensfähig.
• Borrelien können an Körperzellen wie auch an Abwehrzellen (B-Lymphozyten) andocken, mit Hilfe von Enzymen ein Loch in deren Zellwand bohren, deren Kern abtöten und dann die Zellhülle als »Verkleidung« oder »Maske« benutzen. Auch auf diese Weise gelingt es diesen »Al-Qaida-Terroristen« der Mikrowelt, von Immunzellen unerkannt zu bleiben. 27
• Borrelien kopieren (replizieren) Teile ihrer Gene, bauen diese dann ihn ihre Zellwand ein, zwicken diesen Zellwandteil ab und schicken diese Splitter, sogenannte Blebs , im Wirtsorganismus auf Reisen. Auf diese Weise verwirren sie die Abwehrzellen des Wirts und lenken sie ab.
• Sie haben also die Fähigkeit, das Immunsystem auf verschiedene Weise zu überlisten und zu ihren Gunsten umzufunktionieren. Vermutlich spielt bei den Borrelien molekulare Mimikry eine Rolle. Das heißt, die Borrelien verändern die Moleküle ihrer Oberfläche so, dass sie körpereigenen Molekülen ähneln und gegenüber den Abwehrzellen getarnt sind. Werden sie trotzdem vom Immunsystem als Antigen erkannt, kann sich die Immunreaktion nicht nur gegen den Erreger, sondern ebenfalls gegen das ähnliche körpereigene Gewebe richten. Resultat ist eine Autoimmunerkrankung, das heißt die Abwehrzellen greifen die eingenen Körperzellen, etwa Knorpel oder Nervenscheiden, an.
• Sie steuern und manipulieren ihren Gastgeber durch die Ausscheidung von Peptiden und Stoffwechselabfallprodukten, wodurch sie ein für sich günstiges Milieu schaffen. Auf diese Weise wirken sie auch auf die Gefühle und Stimmungen ihres Wirts ein; vielleicht können sie so sogar seine Gedanken und Entscheidungen beeinflussen. Wir kennen dies von den Pilzorganismen (Candida) , die in ihrem menschlichen Wirt Heißhunger auf Süßes verursachen können.
• Sie können sich zwar auch in den Zellen verstecken, aber ihr Lebensraum ist vor allem zwischen den Zellen. In kolloidalen, gallertartigen Substanzen (Knorpel, Gelenkschmiere, Augenflüssigkeit, Endothelialzellen 28, Nervenmyelien, Narbengewebe) fühlen sie sich wohler als im dünnflüssigen Blut oder in der Lymphflüssigkeit. Deswegen sind sie, obwohl im Körper vorhanden, im Serum oft nicht nachweisbar.
• Borrelien sind sehr beweglich. Mit Hilfe von Geißeln und einem dehnbaren Achsenfaden schrauben sie sich, ähnlich wie ein Korkenzieher, durch das Körpergewebe und die Körperflüssigkeiten. Auf diese Weise können sie innerhalb von Tagen den Körper durchwandern und auch in tiefere Gewebe eindringen, wo Antibiotika sie nicht erreichen. Die Spirochäten können alle Gewebe, Augen, Leber, Milz, Gelenke, Blase, Kapillarien und so weiter, durchdringen. Innerhalb von zehn Tagen nach der Ansteckung haben sie bereits die Blut-Hirn-Schranke überwunden, was nicht einmal weißen Blutzellen möglich ist (Grier 2000).
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