Die winzigen Larven, die nicht größer sind als der Punkt am Ende eines Satzes, leben vom Blut vor allem von Kleinsäugern, von Mäusen, Ratten, Igeln, Siebenschläfern und gelegentlich von Eidechsen und Vögeln. Die Eier der Zecken enthalten noch keine Borreliose-Spirochäten. Erst durch diese Kleintiere, vor allem die Nager, die so etwas wie ein Borrelienreservoir bilden, werden die Zecken mit Borrelien infiziert. Die Spirochäten, die in diesen Tieren leben, merken sofort, wenn eine Zeckenlarve an ihrem Wirt saugt. Die betäubenden, immun- und histaminhemmenden Chemikalien im Speichel, den die Zecken in den Wirt hineinspritzen, sind das Signal an die Borrelien, sofort – wie Eisenspäne zum Magnet – in Richtung Einstichstelle auszuschwärmen. Von dort aus infizieren sie die Zeckenlarve oder-nymphe und kolonialisieren deren Darm.
Auf diese Weise werden schätzungsweise etwa 1 Prozent der Larven mit Borreliosebakterien infiziert. Die Nymphen, die ebenfalls an Nagetieren saugen, sollen (in Europa) zu etwa 10 Prozent durchseucht sein. Die erwachsenen Zecken, die auf größeren Säugetieren – Rehen, Hirschen, Pferden, Hunden, Menschen – schmarotzen, sollen um die 20 Prozent mit Borreliose und zu 1,5 Prozent mit dem FSME-Virus infiziert sein. Diese statistischen Angaben sind jedoch mit größter Vorsicht zu genießen, da die Durchseuchung von Region zu Region äußerst unterschiedlich ist und die Untersuchungen keineswegs repräsentativ sind. Nach neuen Schätzungen sollen in den USA allein die Nymphen je nach Region zwischen 30 und 100 Prozent mit Borrelien infiziert sein (Buhner 2005: 19).
Der Zyklus von der Larve bis zum geschlechtsreifen Tier dauert zwei bis drei Jahre. Das erwachsene Weibchen braucht viel Blut, damit die rund 3000 Eier, die es legen wird, ausreifen können. Die Männchen, die gleich nach der Begattung sterben, nehmen eine geringere Blutmahlzeit zu sich. Wenn sie einen warmblütigen Wirt gefunden hat, nimmt sich die Zecke viel Zeit – bis zu mehreren Stunden –, bis sie die passende Einstichstelle findet. Ein befreundeter homöopathischer Arzt, Dr. med. Roland Günther, vermutet, dass die Einstichstelle nicht dem Zufall überlassen wird, sondern dass es sich dabei möglicherweise um eine Akupunkturstelle handelt, an der die Zecke ihren mit Widerhaken versehenen Stechapparat in die Haut versenkt. Er meint, man solle sie ruhig gewähren lassen und ihr für die Akupunktur das bisschen Blut gönnen. Die Ansicht des unorthodoxen Mediziners widerspricht diametral jenen Untersuchungen, die besagen, dass die Gefahr einer Infektion mit der Länge der Zeit, während der der kleine Vampir saugt, entsprechend steigt. Nach US-Studien besteht nach 12 Stunden Saugzeit noch keine Ansteckungsgefahr, nach 24 Stunden beträgt die Wahrscheinlichkeit der Übertragung 30 Prozent und nach 48 bis 72 Stunden fast 100 Prozent (Lösch et al 2006: 16).
Der Stechapparat der Zecke (stark vergrößert) .
Wenn das warme Blut aus dem angestochenen Säugetier oder Menschen in die Zecke hineinfließt, kommt es in ihrem Wanst zu einer Temperaturerhöhung und zum Absinken des pH-Werts. Das verstehen die Spirochäten sofort als Botschaft: Sie wissen, dass sie nun einen anderen Organismus besiedeln können. Mit Hilfe der genetischen Information ihrer Plasmiden analysieren sie das einströmende Blut und erkennen, ob es das Blut einer Maus, eines Hundes, eines Rehs oder eines Menschen ist. In kurzer Zeit passen sie ihren Stoffwechsel und ihre Zellmembranen dem betreffenden Organismus an. Sie verändern je nach Wirt die Oberfläche ihrer Eiweißhüllen, um dessen Immunzellen überlisten zu können. Danach wandern sie, getarnt und gepanzert, vom Darm, wo sie sich hauptsächlich aufhalten, zu den Speicheldrüsen der Zecke. Das braucht etwas Zeit. Deshalb stimmt es: Je länger die Zecke saugt, umso eher hat die Invasionsarmee der Spirochäten eine Chance, in den neuen Organismus überzusiedeln.
Der Befallene bemerkt den Zeckenstich meistens nicht, da der Speichel der Zecke schmerz- und gerinnungshemmende Substanzen enthält. Erst wenn diese wirken, senkt die Zecke ihren mit Widerhaken versehenen Stechapparat in die betäubte Haut und hinab bis zu den kleinen Blutgefäßen. Mit einer Art Klebstoff verankert sie ihr Mundwerkzeug fest in der Haut. Zwei, drei Tage, manchmal noch länger, schleckt sie nun Blut. Dabei nimmt sie das Hundert- bis Zweihundertfache ihres eigenen Gewichts auf. Wenn dann ihr dehnbarer lederiger Hinterleib prall voll ist, fällt sie ab, legt ihre Eier und stirbt.
Zecken ertragen Temperaturen unter dem Gefrierpunkt. Aber erst, wenn die Temperatur im Frühling über zehn Grad steigt, werden sie aktiv. Im Hochsommer wird es ihnen zu heiß, da verkriechen sie sich. Deswegen ereignen sich die meisten Ansteckungen mit Borreliose, wie auch mit Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME), im Frühsommer. Die Zecken haben aber auch natürliche Feinde: Extrem kalte Winter dezimieren sie. Ameisen und Spinnen fressen ihre Eier und Larven. Einige Mehltauarten können sie befallen, ebenso Fadenwürmer (Nematoden). Es gibt Vögel, für die eine Zecke ein Leckerbissen ist. Und es gibt winzige parasitische Wespen (Ixodiphagus hookeri) , die ihre Eier auf Zecken legen; die ausgeschlüpften Wespenlarven fressen dann die Zecken von innen her auf.
Krankheiten, die durch Zecken übertragen werden können
Neben der Lyme-Borreliose kann der Holzbock eine Vielzahl von ziemlich unangenehmen Infektionskrankheiten übertragen. Manchmal, aber sehr selten, treten sie auch als Ko-Infektionen mit der Borreliose in Erscheinung. Expertenschätzungen liegen zwischen 120 bis 800 Erkrankungen, die durch Zeckenbiss übertragen werden können. Darunter befinden sich folgende:
• Rückfallfieber (Febris recurrens) , dessen Erreger ebenfalls eine Spirochäte ist. Symptome sind wiederholte Fieberschübe, Milzvergrößerung, fleckenförmige Haut- und Schleimhautblutungen, Muskelund Gliederschmerzen und diverse Komplikationen.
• Babesiose(Piroplasmose), eine durch Sporentierchen (Protozoen) ausgelöste malariaähnliche Infektion vor allem bei Tieren, gelegentlich auch bei Menschen. Infolge der zerfallenden Zellen kommt es zu Symptomen wie Blutharnen, Blutarmut und Gelbsucht.
• Als Fleckfieber, Flecktyphus, Hunger-, Kriegs-oder Läusethyphusbezeichnet man eine Gruppe von typhusähnlichen Erkrankungen (Rickettsiosen), die durch Ricksettsia-Bakterien ausgelöst werden. Die Bakterien befallen die Auskleidung der Blutgefäße (Endothelgewebe) und lösen schwere Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen, fleckenförmige Hautausschläge, eventuell Hirnhautentzündung und Kreislaufkollaps aus. Verwandt sind das Felsengebirgsfieber (Rocky Mountain Spottet Fever) , das weniger gefährliche Fünftagefieberund etliche andere Infektionen.
• Die FSME (Frühsommer-Meningoenzephalitis), eine weitere von Zecken übertragene, vermutlich durch einen Virus ausgelöste Krankheit, hat ein grippales Vorstadium (Kopfschmerzen, Gliederschmerzen, Fieber). In seltenen Fällen entwickelt sie sich, vor allem bei älteren Menschen, zu einer Hirnhautentzündung, die aufs Gehirn übergreift.
Wir leben in einer Zeit, in der das Gehirn und die Intelligenz wie ein Götze verehrt wird. Da löst die Vorstellung von einer hirnschädigenden FSME eine regelrechte Hysterie aus. In Österreich gab es eine Kampagne, die den Bewohnern von sogenannten Risikogebieten 16dringend eine von einem Professor in Wien entwickelte Impfung empfahl. Die im ganzen Land aufgeklebten Plakate, die den grotesk vergrößerten chitingepanzerten Kopf einer Monsterzecke samt Kieferklauen und bedrohlich ausgestreckten Vordergliedern zeigten, warben nicht etwa für den neusten Horrorthriller aus Hollywood, sondern für die »Zeckenschutzimpfung«. Das Resultat der Kampagne war, dass in Österreich fast 90 Prozent der Bevölkerung geimpft sind. In den letzten 20 Jahren sind 35 Millionen Dosen des Impfstoffs verkauft worden – was die Aktionäre der Herstellerfirmen sicherlich erfreut.
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