Als Rune abgereist war, ging ich zu meiner alten Flamme hinüber. Und wir waren vierundzwanzig Stunden zusammen. Wir lagen im Bett seiner Eltern, während sie bei einem Familienessen waren. Ich habe es getan, weil etwas Unterdrücktes in unserem Verhältnis lag, weil er in der Stadt war, weil wir nicht miteinander fertig gewesen waren. Und weil ich die Möglichkeit bekommen hatte. Er war der, den wir alle begehrt hatten, als ich ein Teenager war. Es war ein Sieg, als er und ich ein paar Nächte für eine kurze Zeit zusammen waren und eine Niederlage, als er aufhörte anzurufen oder bei Partys meine Hand zu halten. Es war ein neuer, aber geringerer Sieg, ihn wieder zu bekommen. Und er ist ein gut aussehender Mann. Damals, ich war siebzehn und er neunzehn, sagte er nie, dass er mich liebte. Von meiner Seite aus war es damals Liebe. Oder jedenfalls Verliebtheit. Aber ich wusste, dass ich das von ihm nie zu hören bekommen würde. Er würde diese Worte nie aussprechen, daher tat ich so, als ob es okay für mich wäre, seine Sex-Freundin zu sein. Bis er mich lieber als Freundin statt als Sex-Freundin haben wollte.
Über diese Dinge sprachen wir an jenem Weihnachten nicht. Als wir nach all den Jahren wieder zusammen waren, erkannte ich seinen Körper wieder, aber irgendwie auch nicht. Er hatte etwas von dem unbeschwerten Körperbau des Teenagerjungen verloren und war sehniger geworden. Seine Bartstoppeln waren dunkler geworden, seine Wangenknochen markanter. Es war, wie einen neuen Körper zu spüren und ich liebe es, einen unbekannten Körper zu küssen, zu erforschen und zu spüren. Ich selbst war weicher geworden und hatte mehr Kurven und einen großen Hintern bekommen. Er stand auf meinen neuen Körper, besonders auf meinen Po. Er hielt ihn fest in seinen Händen und formte ihn, drückte ihn, hielt sich an meinen Hüften fest und stöhnte laut, als er kam.
Danach tranken wir in Bettdecken eingepackt in der Küche Earl-Grey-Tee. Wir redeten über unser Leben in leichten Tönen. Ich war rastlos und dachte die ganze Zeit daran, dass ich gleich gehen würde. Aber ich wollte ihn auch wieder erobern, ich wollte ihn dazu bringen alles zu erzählen, ich wollte ihm schmeicheln, ihn erfreuen, ihn mit Begierde erfüllen. Er war dabei, von einer französischen Frau geschieden zu werden, die heim nach Lyon gereist war, und ihre Wohnung war verkauft worden. Er war wehrlos und trug die Scheidung wie einen Speer durch die Brust.
Im Laufe des Abends kamen seine Eltern nach Hause, während wir auf dem Sofa lagen und einen alten Film im Fernsehen ansahen. Sie sagten bloß „Hallo“, „lange her“ und „Gute Nacht“. Dann gingen sie ins Bett. Ich dachte daran, dass ich in ihrer Bettwäsche gelegen hatte. Aber dann spürte ich eine Hand unter die Decke kriechen, die über mir lag. Die Hand fand meine Taille, strich weiter nach oben und legte sich wie eine Schale um meine Brust. Ich schloss die Augen und legte den Kopf zurück.
Am nächsten Morgen schlich ich mich durch die Waschküche hinaus und lief durch die Villenwege nach Hause zu meinen eigenen Eltern. Sie frühstückten und lasen Zeitung in ihren Morgenmänteln. Meine Mutter holte einen Becher für mich und sagte:
„Wie schön, dass deine alten Freundinnen in den Weihnachtsferien auch zu Hause sind.“ Ich nickte. Das war es. Am nächsten Tag fuhr ich zurück nach Kopenhagen und im Laufe des Frühlings wurden Rune und ich uns einig, dass wir zusammenziehen wollten. Aber ich kam nicht zur Ruhe.
Rune und ich wohnten zusammen in meiner kleinen Zweizimmerwohnung, wir stritten über die Sofafarbe und darüber, wo man in der Wohnung seine Schuhe hinstellen sollte und wie oft wir abwaschen sollten und wie viele Freunde Rune zum Handballgucken einladen konnte. Und wir hatten Sex. Viel Sex. Wir lagen auf dem Sofa und schauten DVDs und berührten uns, so dass ich nie den Schluss von „American History X“ mitbekam, obwohl wir ihn zweimal sahen. Wir hatten Sex in der Dusche, die in einer Ecke des Schlafzimmers eingerichtet war und deren Fugen knirschten, wenn Rune mich gegen die mattierte Plastikwand presste. Natürlich hatten wir auch Sex im Doppelbett, fast jede Nacht. Von vorne und von hinten, unter meiner weißen Bettwäsche, plain vanilla, aber schön. Ich ließ ihn mich unter seinem Körper begraben und einfach machen. Falls mich das passiv klingen lässt: Das stimmt nicht. Ich war gierig, ich verschlang ihn und nahm alles entgegen, was Rune zu bieten hatte. Er trieb es mit mir, mit seinem ganzen hellen, festen Körper, seine Hände gingen überall auf Entdeckungsreise, meine Lust war sein Projekt, sein Hobby, seine Mission. Aber dennoch, trotz all des Sex’, gab es eine Ecke von mir, die nie satt wurde. Ich war immer noch offen für die Umwelt und all ihre Möglichkeiten.
Ich hatte einen gut aussehenden Mann mit einer starken Antriebskraft und Optimismus gefunden, die ihn jeden Tag aufstehen und raus und hinaus in die Welt gehen ließ und der Gesellschaft und Feste und mich liebte. Und trotzdem war ich nicht zufrieden. Es fühlte sich an, als ob ich mir eine Schublade in einem Archivschrank ausgesucht hätte und hineingesprungen wäre, woraufhin der Schrank geschlossen worden war. Ergibt das einen Sinn? Vielleicht nicht. Aber so geht es mir. Genau wie damals, als ich meine Schwerpunktfächer im Gymnasium wählen sollte. Meine Lehrer empfahlen, dass ich mich auf Sprachen konzentrieren sollte, wie es damals hieß. Und ich nickte und füllte den Zettel aus. Aber in mir gab es eine Stimme, die rief: „Ich könnte auch Biologin werden! Oder Ärztin! Ich könnte in die dritte Welt reisen und ein Heilmittel gegen Malaria finden!“ Ich konnte einen Zug von all den Türen spüren, die sich schlossen, als ich mich für den sprachlichen Zweig entschied. Das gleiche Gefühl stellte sich ein, als ich mich entschied mit Rune zusammenzuziehen.
Eine der Schubladen, die ich in meinem Leben geschlossen habe, ist die mit dem Traum zu schreiben. Heute schreibe ich Newsletter und Kundenmails und ich lese Bücher. Alle möglichen Bücher. Eine Strophe eines Emily Dickinson-Gedichts hat sich in meinem Kopf festgesetzt, denn genauso ging es mir in der ersten Zeit, nachdem ich mit Rune zusammengezogen war:
The soul has moments of Escape –
When bursting all the doors –
She dances like a Bomb, abroad,
And swings upon the Hours
Ich war eine verirrte Rakete, außer Kontrolle, die die Landschaft verwüstete und riskierte, Zerstörung mit sich zu bringen.
Als wir ungefähr ein Jahr zusammengewohnt hatten, waren Rune und ich bei einer Hochzeit. Einer von Runes Freunden würde heiraten, ein handballspielender ehemaliger Klassenkamerad mit perfekten Zähnen. Er würde eine große, blonde Frau heiraten, die irgendwas mit Marketing und Fluggesellschaften machte. Das erwähne ich um zu sagen, dass dieses Paar immer so aussah, als ob es gerade aus einem Sommerurlaub zurückgekommen wäre, die Koffer voller zollfreier Kosmetik. Bei dieser Hochzeit hatte ich einen sehr aufmerksamen Tischherrn. Er rückte mir den Stuhl zurecht, betrieb Konversation und schenkte Wein ein, viel zu viel Wein. Er war dunkelhäutig, er sah aus wie ein Zigeuner aus einem Kinderbuch von damals, als man noch problemlos Zigeuner sagen durfte und Zigeuner mit etwas exotischem, einzigartigem und echtem verbunden waren. Er sah aus wie ein Mann, der auf die Idee kommen könnte meine Hand zu nehmen und mich zu überreden durchzubrennen und zusammen mit ihm in einem Zirkuswagen zu wohnen.
Es wurden Reden gehalten. Nach dem Hauptgericht hatten drei der Freundinnen der Braut eine Power Point -Präsentation mit Fotos ihrer gemeinsamen Jugendurlaube zusammengestellt. Es waren fröhliche, blonde Teenager mit Drinks, im Bikini, hinten auf Mofas, am Strand, im Liegestuhl, in Hotelbetten. Die Vorhänge im Gesellschaftsraum waren zugezogen, damit wir die Bilder sehen konnten, und die Luft war warm und stand. Die Tische standen ein wenig zu dicht, die Akustik war schlecht, die kichernden Stimmen der Freundinnen undeutlich. Ich wurde dösig. Meine Lider waren schwer, mein Körper warm und schwer. Mein Tischherr rückte seinen Stuhl ein bisschen näher an meinen und ließ die Rückseite seines Zeigefingers langsam die nackte Haut auf meinem Unterarm hinuntergleiten. Ich legte die steife, weiße Stoffserviette über meine Oberschenkel, so dass sie auch einen Teil seines Schoßes bedeckte. Meine Hand kroch unter die Serviette. Ich kratze mit einem Nagel an dem warmen, strammen Stoff der Hose, dort, wo sie seinen Schritt bedeckte. Vor und zurück bewegte ich den Nagel, als ob ich ganz vorsichtig einen Fleck wegkratzte. Die Reibung des Stoffes gegen meinen Finger kitzelte und summte. Mein Mund war gesättigt von dem Rotwein, den ich getrunken hatte. Der schwere Klang meines eigenen Atems füllte meine Ohren. Die drei redenden Freundinnen und alle Hochzeitsgäste verschwanden. Die Braut verschwand, der Bräutigam verschwand, Rune verschwand. Mein Tischherr schob seine Hand runter zu meiner und öffnete ganz still und langsam seine Hose. Er flüsterte etwas, das ich nicht hören konnte, und meine Hand kroch unter die Stoffserviette. Ich konnte spüren, dass er steif und warm und seine Haut glatt wie Seide war. Vor meinem inneren Auge sah ich etwas Solides und Dunkles, das danach strebte, von dem Stoff befreit zu werden, der es unten hielt. Es gab nicht besonders viel Platz um meine Hand zu bewegen, daher streichelte ich ihn leicht mit drei Fingern, während ich mein Gesicht auf die Redner gerichtet hielt. Ich wurde davon erregt, ihn zu erregen, es pochte in meinem Schoss, mein Atem ging schneller und meine Lippen öffneten sich. Aber dann flüsterte mir mein Tischherr etwas zu und sein Atem war heiß an meinem Ohr:
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