Ich betrat den Supermarkt, nahm mir einen Korb und schlenderte umher, wählte Äpfel aus, ein paar Birnen, ein paar Weintrauben, eine Gurke, Brunnenkresse. Ich wollte frische Sachen, Salat, den ich essen konnte, ohne mich zu fragen, ob ich davon krank werden würde. Als ich an der Käsetheke verweilte und versuchte, mich zwischen einem Brie und einem verlockenden Wensleydale zu entscheiden, begann ich mich besser zu fühlen. Ich würde mir ein schönes Abendessen gönnen, etwas Gesundes, und es mit Wasser statt mit Whisky runterspülen.
Pasta, Tomaten, Mozzarella; einen kleinen Topf Basilikum, den ich in die gulkhana stellen würde. Ich summte vor mich hin, während ich alles in den Korb legte und dem Duft von frischgebackenem Brot nachschnupperte. Ich fügte ein Schokoladentörtchen hinzu, nahm eine Flasche Orangensaft aus dem Regal.
Es lief alles gut, bis ich die Fleischtheke erblickte, mit ihren Fleischbatzen, die kalt und blutig dalagen, marmoriertes Rindfleisch, Rippen, die aus einem Stück Lammbrust ragten. Glitschige Leber, bauchige Nieren, ausgeweidete Organe. Ich hörte auf zu summen. Jetzt kam mein Atem in kleinen Japsern heraus.
Plötzlich waren zu viele Menschen in dem Laden, zu viel Farbe in den Regalen, zu viel Licht, zu viel von allem. Eine Lautsprecheransage ertönte, irgendetwas war in Gang 4 verschüttet worden, und ich ließ meinen Korb fallen, hielt mir die Ohren zu, meinte Männer zu hören, die in Lautsprecher schrien, Befehle gaben, Drohungen ausstießen.
Ich ließ meinen Korb, wo er war, und rannte zur Tür hinaus, um mich irgendwo zu verstecken. Die Straße war voller Leute, die zur Mittagspause aus ihren Büros kamen. Ich lehnte mich gegen die Wand neben dem Supermarkt, mein Herz hämmerte, und ich versuchte, mich aufrecht zu halten, weil ich wusste, dass mir jeden Moment schlecht werden würde.
Ich versuchte, mich zu beruhigen, es würde nichts Schlimmes passieren, ich befand mich auf einer ganz gewöhnlichen Straße in einer ganz gewöhnlichen englischen Stadt. Ich versuchte, langsam zu atmen, und zählte beim Ausatmen bis zehn.
Eine Gruppe junger Frauen kam aus einer Seitenstraße; sie trugen Stirnbänder mit Hörnern, hauchdünne Feenflügel, enge T-Shirts mit dem Aufdruck »Cazs letzte Eskapade« auf dem Rücken. Caz war ganz in Pink gekleidet, mit einem großen L-Schild für »Learner« auf der Brust. Sie sahen aus wie ein Schwarm betrunkener Schmetterlinge, deren Flügel im Wind flappten, und ich wandte mich panisch ab, um ja nicht ihre Aufmerksamkeit zu erregen.
Eine von ihnen bemerkte mich trotzdem. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte sie, und ich nickte. Ich wollte nur, dass sie ging.
»Tja, wenn Sie meinen«, erwiderte sie.
Als sie an mir vorbeizogen, begann ich zu würgen. Normalerweise übergebe ich mich nicht in der Öffentlichkeit, nicht mehr. Ich habe mir antrainiert, der Übelkeit nicht nachzugeben, egal, was sich vor meinen Augen abspielt. Ich habe gelernt, meine Kamera zu heben und vor mich zu halten und einfach das Foto zu machen; ich habe gelernt, alles einzuhalten, bis ich allein bin, in meinem Hotelzimmer oder auf einer Toilette, irgendwo, wo ein Schloss an der Tür ist. Gedemütigt machte ich mich auf den Rückweg die St. James’s Street entlang, langsam, mein Bauch leer und schmerzend. Die Panik war einem dumpfen Kopfschmerz gewichen. Ich kehrte zu dem noblen Feinkostladen in der Nähe der Wohnung zurück und kaufte Brot und Suppe, einen Pint Milch und Kaffee. Wieder drinnen, als ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, stand ich einen Moment da und lauschte der Stille, froh, allein zu sein.
Sechs
ELIZABETH WILLOUGHBYS TAGEBUCH
15. Dezember 1914
Meine Güte, bin ich erschöpft. Ich schlafe fast ein, während ich dies im Bett schreibe, Kissen im Rücken, das Tagebuch auf den Knien balancierend.
Die nächste Ladung (was für ein schreckliches Wort, um Menschen zu beschreiben, als wären sie eine Postzustellung, aber ich bin zu müde, um mir ein anderes zu überlegen) ist eingetroffen, mehr als dreihundert Patienten, noch übler zugerichtet als die vorherigen. Einige von ihnen trugen tropische Uniformen: und das im Dezember, unglaublich! Andere hatten nicht einmal Stiefel, ihre Füße waren so stark geschwollen, dass sie Sandalen trugen, die bloß aus einer Sohle und Leinenstreifen bestanden. Wir wickelten sie sofort in Decken und brachten sie so schnell wie möglich zum PAVILION.
Wieder hatte sich zu ihrer Begrüßung eine Menschenmenge am Bahnhof eingefunden, wieder war es ein trüber Tag. Die Inder scheinen die Phantasie der Menschen wirklich gefangenzunehmen. Vor allem die Damen von Brighton sind gefesselt von ihnen. Jeden Tag warten sie in Scharen an den Eingängen des PAVILION-Geländes, um einen Blick auf die »Dunkelhäutigen Krieger«, wie die Gazette sie genannt hat, zu erhaschen. Ich sage ›Damen‹, aber ich glaube nicht, dass Colonel MacLeod sie für Damen hält. Heute gab er den Befehl, alle Eingangspforten mit Brettern zu vernageln und Sichtblenden aus Holz entlang des Zaunes anzubringen, damit niemand mehr hineinschauen kann. Einige von ihnen kletterten trotzdem hoch, hockten sich oben auf den Zaun und spähten hinein, als wären die Patienten exotische Tiere im Zoo.
Die Männer scheint das nicht sonderlich zu stören. Sie verlassen den PAVILION nur zum Beten. Die Sikhs gehen in ihren Tempel, der ein Zelt auf dem Gelände ist, und die Mohammedaner in ihren, gleich nebenan. Fünfmal am Tag suchen diejenigen, die in der Lage dazu sind, ihr Zelt auf und vollziehen ihre jeweiligen Rituale. Es muss furchtbar kalt sein, aber sie gehen dennoch hinaus und beschweren sich nie auch nur im Geringsten.
Ich höre mir gerne die mohammedanischen Gesänge an, die ich sehr schön finde. Heute Morgen trat der Arzt von neulich, der mir von den Lotosblumen erzählt hat, auf mich zu, als ich draußen vor dem Eingang zu ihrem Zelt stand.
»Was singen sie?«, fragte ich.
»Allahu-akbar . Das bedeutet: ›Gott ist groß‹.«
»Wollen Sie nicht mitsingen?«
»Ich bin Hindu.«
Es war mir peinlich, und ich entschuldigte mich. Wie es scheint, bringe ich diese Dinge immer durcheinander. Es ist so schwierig zu wissen, wer was ist, und ich bin mir doch gewahr, dass es furchtbar wichtig ist. Alles hier ist geteilt, von den Stationen für Patienten aus verschiedenen Stämmen oder Kasten, über die Küchen – neun insgesamt –, die Toiletten und Bäder bis hin zum Besteck und den Wasserhähnen! Es ist wirklich schrecklich kompliziert und schwer zu merken, egal wie oft sie es einem auch erklären.
Ein Lächeln huschte über seine Lippen, und ich fragte mich, ob er mich für dumm hielt.
»Alle geben sich enorm viel Mühe.« Ich fühlte mich ein wenig in die Enge getrieben. »Alles richtig zu machen, meine ich. Um niemanden zu kränken.«
»In der Tat.«
»Ich bin übrigens Schwester Willoughby«, sagte ich eilig. »Elizabeth Willoughby.«
»Und ich bin Hari Mitra. Fast Arzt, aber noch nicht ganz.«
Die Leiden der Patienten sind vielfältig; manche verursacht durch Schüsse und Granaten, andere einfach dadurch, dass sie so lange in den winterlichen Schützengräben festgesessen haben. Es gibt einen schrecklichen Zustand namens Grabenfuß, der durch das Stehen in geschlossenem Schuhwerk in kaltem Wasser und Schlamm entsteht. Es beginnt mit Frostbeulen, dann runzelt sich die Haut der Füße wie nach einem langen Bad, sie fängt an zu faulen, und die Zehen werden fühllos. Schließlich wird der gesamte Fuß taub, und man kann nicht mehr gehen. Viele unserer Patienten hatten Amputationen, bevor sie zu uns kamen, und haben einen Fuß oder sogar den Unterschenkel bis zum Knie verloren.
Es stehen immer noch viele Operationen aus. Heute Nachmittag war ein Mann namens Mohan Ram an der Reihe, der schreckliche Wunden an Bauch und Brust aufwies. Ein und derselbe Granatsplitter durchschlug beide Stellen und durchbohrte seine Eingeweide. Die französischen Chirurgen hatten es geschafft, ihm das Leben zu retten, aber jetzt war die Wunde infiziert. Ein schrecklicher Geruch drang durch seine Verbände – der Gestank von totem und verfaulendem Fleisch.
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