Als Erstes hast du mir Die Erschießung der Aufständischen gezeigt, El tres de mayo de 1808 . Ich stand da und betrachtete die riesige Leinwand, ein Erschießungskommando, die Gewehre auf einen hell ausgeleuchteten Mann gerichtet. Er sah ihnen entgegen, auf den Knien aufgerichtet, die Arme ausgebreitet wie Christus am Kreuz. Vor ihm auf dem Boden einige Leichen, an seiner Seite weitere Gefangene, voller Panik, weil sie wussten, was als Nächstes kam. Den Ausdruck auf ihren Gesichtern kannte ich nur zu gut.
»Wenn ich das fotografiert hätte«, sagte ich, »hätte ich mich fragen müssen, ob ich nicht zu nah dran war und sie das Ganze für die Kamera inszenierten.«
Du hast nichts gesagt, hast bloß genickt und mich zu seinen Schwarzen Gemälden geführt, die er direkt auf die Wände seines Hauses gemalt hat, kurz nach den Napoleonischen Kriegen, als er fast wie ein Einsiedler lebte. Er hatte Angst, wahnsinnig zu werden, und als ich diese vierzehn Bilder sah – Saturn, der seinen Sohn verschlingt, Bauern, die mit Knüppeln aufeinander losgehen, eine Enthauptung, ein Hexensabbat, alles in Schattierungen von Schwarz und schlammigem Braun –, begriff ich, warum.
»Werde du nicht so verrückt«, hast du mir ins Ohr geflüstert.
»Nein«, erwiderte ich. »Das werde ich nicht.«
Ich stand am Meeresufer, sann nach, rauchte und schaute zurück auf die Strandpromenade. Kabul ist braun, tausend Schattierungen von Wüstenstaub. Als ich das erste Mal dort war, lag ich abends im Bett, konnte nicht schlafen und hörte das Krachen und Bersten der Luftangriffe, und ich spielte unser Spiel, bei dem wir darum wetteiferten, alle Wörter aufzuzählen, die wir für eine Farbe kannten.
Schokolade, Khaki, Maus. Kastanie, Haselnuss, Beige. Ocker, Kupfer, Bronze .
Brighton ist weiß (Kreide, Käse) , vom Schaum der Wellen bis zu den schmutzigen Möwen und den abblätternden Regency-Villen – und heute sogar der Himmel. Ich wanderte den Strand entlang, bis zu dem Abschnitt, der für Nudistinnen und Nudisten reserviert ist. Ein alter Mann saß in einem Liegestuhl, nackt bis auf ein Paar Flip-Flops, abgeschirmt durch einen gestreiften Windschutz, der in der Brise knatterte. Er fing meinen Blick auf, als ich vorüberging.
»Ein schöner Tag dafür«, sagte er.
Und plötzlich war es ein schöner Tag. Ich liebte den Mann und seine unbekümmerte Nacktheit. Als ich in die Wohnung zurückkam, schaltete ich den Gaskamin ein, höchste Stufe, und zog mich komplett aus. Ich holte Elizabeths Tagebuch hervor, setzte meine Sonnenbrille auf und ließ mich in dem Korbsessel in der gulkhana nieder, die Füße auf einem marokkanischen Lederpuff, las und griente vor mich hin und spürte die Wintersonne auf meinem Körper, einfach weil ich es konnte.
Vielleicht wird alles gut, Suze. Vielleicht werde ich nicht verrückt, wie ich es dir in Madrid versprochen habe. Vielleicht wird auch mit mir alles gut.
Vier
ELIZABETH WILLOUGHBYS TAGEBUCH
5. Dezember 1914
Unsere ersten Patienten sind gut untergebracht.
Es sieht ganz anders aus als bei meiner Pflegevorführung vor einigen Wochen. All die schönen Perserteppiche sind entfernt und durch ziemlich tristes khakifarbenes Linoleum ersetzt worden. Im Bankettsaal und im Musikzimmer wurden Bretter an den Wänden angebracht, um die Tapeten zu schützen, und die Vorhänge wurden abgenommen. Es ist viel praktischer, schätze ich, aber ich vermisse die phantastischen Drachen und die lebensgroßen chinesischen Figuren, die aussehen, als würden sie im Mondschein über die Wände spazieren.
Die Küche wurde in einen Operationssaal verwandelt. Nicht dass ich damit viel zu tun haben werde. Als wir uns zum Dienst meldeten, sagte Colonel MacLeod, unser kommandierender Offizier, dass alle medizinischen Behandlungen von britischen Ärzten und einigen Chirurgen vom Indian Medical Service durchgeführt werden würden, assistiert von indischen Ärzten und Medizinstudenten, die hier studierten, als der Krieg begann.
Uns Krankenschwestern, die Queen’s Nurses, erwähnte er mit keinem Wort. Nach einer Weile konnte ich mich nicht länger zurückhalten und hob die Hand, um nachzufragen. Der Colonel runzelte die Stirn und sagte, man habe beschlossen, dass Engländerinnen nicht in der Pflege tätig sein sollten. Ich wartete auf eine Erklärung, aber er nickte nur, als wäre es damit erledigt. Ich war nicht kühn genug, noch einmal nachzufragen, aber während er fortfuhr, das Krankenhausprotokoll zu erläutern, ging es mir nicht aus dem Kopf, und so folgte ich ihm hinterher in sein Büro.
Ich sagte ihm, dass es mir furchtbar leidtäte, aber dass ich nicht verstünde, was er gemeint habe, denn die Krankenpflege sei schließlich das, wofür wir ausgebildet worden seien. Er schaute mich unter seinen großen weißen Augenbrauen hinweg an und erwiderte, dass es sich nicht schicken würde. Als ich fragte, warum nicht, räusperte er sich umständlich und meinte dann, ich müsse doch verstehen, dass Indien eine unserer Kronkolonien sei und die Bevölkerung daher unter unserer Herrschaft stehe.
Ich sagte, ich wüsste nicht, was das damit zu tun habe, woraufhin er sich erneut räusperte und erklärte, dass die einheimische Bevölkerung in Indien nie von Engländerinnen gepflegt würde, weil sich ein so »vertraulicher Umgang« nicht zieme, und deshalb würden die Queen’s Nurses nur die Aufsicht führen und die Pfleger anhalten, die »höchsten Standards einzuhalten«.
Abschließend sagte er dann sehr bestimmt, wenn ich mit dieser Sachlage nicht glücklich sei, möge ich ihm das lieber gleich sagen, ehe die Patienten kämen.
»Ich … nein, ich bin glücklich«, erwiderte ich.
Das stimmte natürlich nicht. Ich ging schnell fort und war ziemlich verärgert. Es ist wirklich ein gehöriger Schlag. Ich verstehe einfach nicht, was daran unschicklich sein soll. Wie Papa immer sagt: Auf dem Operationstisch sind wir alle gleich. Wenn Robert nicht wäre, wäre ich versucht, in eines der anderen Krankenhäuser zu wechseln, wo ich wirklich von Nutzen sein könnte, aber ich möchte so gern etwas von seiner Welt erfahren, und deshalb beschloss ich, mir auf die Zunge zu beißen und das Beste daraus zu machen.
Heute Morgen bin ich zum Bahnhof gegangen, um unsere Patienten vom Lazarettzug abzuholen. Es war ein trostloser Tag, es regnete seit dem Morgengrauen, und die Straßen waren voller Schlamm, und es tat mir leid, dass dies ihr erster Eindruck von unserer Stadt sein würde, obwohl ich annehme, dass für diese armen Männer jeder Ort besser ist als der, wo sie gerade herkommen.
Zur Begrüßung hatte sich eine Schar wohlgesinnter Menschen eingefunden, die sich unter ihren Regenschirmen vor dem Bahnhofsausgang drängten. Als die ersten Krankenbahrenträger auftauchten, setzte ein Augenblick des Schweigens ein, ungeplant, aber von allen eingehalten – ein Zeichen des Respekts für die Tapferkeit der Soldaten und für das, was sie erlitten hatten. Dann folgten Jubel und Applaus, worüber ich mich gefreut habe, denn die Männer sind so weit weg von zu Hause und es ist schrecklich wichtig, dass sie sich willkommen fühlen.
Die Männer waren in einem furchtbaren Zustand. Mehr als die Hälfte von ihnen musste auf Bahren getragen werden, die anderen humpelten auf Krücken oder taumelten mühsam voran, die Arme um ihre Kameraden geschlungen. Sie sahen erschöpft aus, als wären sie am Ende einer sehr langen Reise angekommen, was natürlich auch der Fall war: eine endlose Reise über den Indischen Ozean, dann zum Kampf hinein in die Schützengräben in Nordfrankreich; dann, wenn verwundet, wieder hinaus in die Feldlazarette und dann in einen Zug und dann auf ein Schiff, um den Kanal zu überqueren, dann in einen weiteren Zug nach Brighton, Endstation der Strecke.
Es war ein seltsamer Anblick; sie sahen so – nun ja – sehr fremd aus. Der einzige Inder, den ich vor dem heutigen Tag je gesehen hatte, war Mowgli in dem Bilderbuch, das ich als Mädchen besaß, aber hier waren nun gut zwei Dutzend von ihnen, die langsam den Weg über den windgepeitschten Bahnsteig zurücklegten. Das Erste, was mir auffiel, waren viele ziemlich große Schnäuzer und Bärte, lang und schwarz, und dunkle Augen unter sorgfältig gewickelten Turbanen. Einige der Männer waren sehr groß und elegant in der Art, wie sie sich trotz ihrer Verletzungen hielten; andere waren klein, ohne Schnäuzer oder Bärte, und sahen furchtbar jung aus.
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