Sie kochte über. Sie richtete einen Schlamassel an, der noch nicht beseitigt wurde. Ich kann nicht aufhören, daran zu denken. Ich kriege es nicht aus dem Kopf.
Ich habe nach Ablenkung gesucht, habe herumgestöbert und versucht, mich davon abzuhalten, an all das zu denken. Auf einem der Bücherborde steht ein altes Holzkästchen, grob gezimmert und zwischen dem prachtvollen Porzellan und dem erlesenen Silber fehl am Platz. Ich erinnere mich nicht, es je zuvor gesehen zu haben. Vielleicht hat Edith es absichtlich für mich dort hingestellt.
Ich werde es öffnen, Suze. Schauen wir mal, was darin ist.
Gesagt, getan. Es riecht muffig, trocken, nach altem Papier und Tinte.
Ein brauner Umschlag ist herausgefallen, Fotos stecken darin, verblasste Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Ich lege sie auf dem Kaminvorleger aus.
Ein Gruppenbild: förmlich, Männer stehen vor einem indischen Palast, reichlich filigranes Dekor und ziselierte Säulen, Kuppeln, Türme und Minarette. Die Männer tragen Uniform und Turban, die langen Bärte sind sorgsam getrimmt. Sie gucken mit starrer Miene in die Kamera. Sie weisen Verletzungen auf: Beine in Gips, Arme in Schlingen. Manche haben überhaupt keine Beine oder Arme, bloß bandagierte Stumpen.
Eine Krankenstation: lange Reihen von akkurat gemachten Betten, in jedem sitzt aufrecht ein Soldat in weißem Pyjama und mit weißem Turban, passend zum Bettzeug.
Ein Operationssaal: eine Liege im Zentrum unter einer Deckenlampe, ein Waschtisch, Instrumente fein säuberlich ausgelegt, Flaschen mit Desinfektionsmittel auf einem Beistelltisch. Sieben Mitarbeiter in OP-Bekleidung. Allesamt Weiße, bis auf einen, der aussieht, als sei er Inder, wie die Patienten. Allesamt männlich, bis auf eine Frau: eine Krankenschwester.
Am unteren Rand dieses Fotos steht etwas geschrieben:
PAVILION HOSPITAL, BRIGHTON 1915.
In dem Kästchen befindet sich noch etwas – ein kleines Buch, in Leder gebunden, die Seiten gefüllt mit einer engen schwarzen Schrift.
Ich verspüre ein kleines Prickeln der Aufregung – wie immer, wenn mir eine Story begegnet.
Zwei
ELIZABETH WILLOUGHBYS TAGEBUCH
1. Dezember 1914
Mit großer Freude beginne ich dieses Tagebuch, das meinen Bericht über diesen Krieg darstellen wird. Ich gebe nicht vor, dass es mehr als das sein soll: Ich spreche nur für mich selbst, ich lege meine Eindrücke und Erfahrungen schriftlich nieder, damit ich in späteren Jahren zurückblicken und mich erinnern kann.
Es ist kein Zufall, dass ich jetzt beginne: Endlich habe ich einen guten Grund zum Schreiben. Morgen werde ich eine Stelle im ROYAL PAVILION antreten. Man könnte sich fragen, wozu an einem Ziel für Tagesausflügler Krankenschwestern benötigt werden sollten. Die Antwort lautet, dass es nicht länger ein Ausflugsziel ist: Der Palast ist jetzt ein Militärkrankenhaus.
Ich hatte das von Hugo erfahren; seine Pfadfindergruppe half letzte Woche beim Ausräumen, um Platz für die Betten zu schaffen. Voller Neuigkeiten kam er nach Hause. Anscheinend hatte der König höchstpersönlich den Bürgermeister angewiesen, ein Lazarett daraus zu machen. Für mich ist das Spannende daran: Die Patienten werden Inder sein – Soldaten, die für uns an der Front gekämpft haben.
Dies war die Ankündigung in der Gazette , die ich ausgeschnitten habe, um sie aufzubewahren:
Tapfere Soldaten aus unserer großen indischen Kolonie sollen nun, nachdem sie so edelmütig für ihren König-Kaiser gekämpft haben, in einem königlichen Palast im berühmtesten britischen Badeort versorgt werden. Es klingt wie ein Kapitel aus einem wundervollen Roman. Es wird der Welt beinahe unglaublich erscheinen. Es wird dem Brighton Pavilion einen Namen verleihen wie nie zuvor. Generationen noch ungeborener Brightoner werden staunen, wenn sie über diese Zeit lesen .
Natürlich habe ich sofort an Robert gedacht. Wenn ich einen Mann heirate, dessen ganzes Leben der indischen Armee gewidmet ist, wie könnte ich es besser nachvollziehen, als indem ich seine Soldaten pflege? Vielleicht stammen einige von ihnen sogar aus seinem Regiment, das erst letzten Monat den langen Weg von Bombay hierhergekommen ist. Als ich davon hörte, bin ich sofort hinunter zur Oberschwester geeilt und habe gefragt, ob mein Name ins Spiel gebracht werden könnte. Anfangs war sie zögerlich und meinte, es hätte einen furchtbaren Aufruhr wegen der ganzen Sache gegeben, aber nach einigem Zureden sagte sie schließlich, dass sie mich für eine Stelle vorschlagen würde, wenn Mama und Papa einverstanden wären. Als ich darum bat, schaute Mama besorgt drein und sagte, sie hoffe, dass die Patienten nicht in einem allzu schrecklichen Zustand seien, und Papa grunzte und raschelte mit seiner Zeitung und meinte, er sei stolz auf mich, weil ich in seine Fußstapfen träte.
Das tue ich natürlich nicht, denn er ist Chirurg und ich bin bloß Krankenschwester, aber ich freute mich trotzdem.
Ich habe beschlossen, es Robert noch nicht zu erzählen. Ich werde bis zu seinem nächsten Heimaturlaub warten. In unseren Briefen scheinen wir nie das ausdrücken zu können, was wir wirklich meinen, und er ist kein eifriger Schreiber, weshalb ich mich töricht fühle, wenn ich ihm Seiten um Seiten schreibe. Ich werde warten, bis er zurückkommt, dann habe ich mich im PAVILION eingearbeitet und kann ihm zeigen, was ich tue, anstatt zu versuchen, es mit Worten zu erklären.
Was taten sie hier, diese Soldaten? So weit weg von zu Hause kämpften sie in einem Krieg, der nichts mit ihnen zu tun hatte. Ich vermute, das ist gar nicht so ungewöhnlich. Arme Männer lassen sich immer anheuern – ich habe genug Zehn-Dollar-Taliban gesehen, um das zu wissen. Ich frage mich, was sie davon hielten, zur Genesung in einem Königspalast untergebracht zu sein. Wie seltsam muss ihnen das erschienen sein, vielleicht aber auch nicht seltsamer als die Schützengräben an der Front.
Ich fühle mich auch seltsam, ich kann nicht aufhören, an Kabul zu denken. Heute Morgen beschloss ich, einen Spaziergang zu machen, um den Kopf freizubekommen. Ich zog eine alte Jeans an und meine dicken Stiefel, mummelte mich mit Schal und Handschuhen warm ein und machte mich auf den Weg zum Strand. Der kalte Wind, frisch und salzig, traf mich wie eine Ohrfeige. Mit knirschenden Schritten ging ich über die Kieselsteine, froh, dass es kein Sand war, froh über vieles, froh, nicht um Erlaubnis bitten zu müssen, dort zu sein, nicht von neugierigen Augen angestarrt zu werden, einfach gehen zu können, ohne zu denken, und nicht fürchten zu müssen, in die Luft gesprengt zu werden.
Ich rauchte, während ich ausschritt, wie immer, und dachte an dich. Weißt du noch, wie ich immer gesagt habe, es sei keine Sucht und dass es dort, wo ich arbeitete, praktisch ein Erfordernis sei? Zigaretten sind Schmiergeld, wenn du einen Kontrollpunkt passieren willst. Wenn die Scharfschützen aussetzen und du deinen nächsten Schritt planst, füllt eine Kippe die Pause. Soldaten wollen etwas zu tun haben, während sie auf die nächste Ansage warten. Die fünf Minuten, in denen man zusammen raucht, ist man fast einer von ihnen.
Du wolltest nichts davon hören. Du sagtest, ich sei eine elende Süchtige, die das Rauchen nicht aufgeben wolle, und das seien alles nur Ausreden und am Ende würde es mich umbringen. Du hattest natürlich recht, aber es war schwer, viel darum zu geben. In einem Kriegsgebiet denkst du nicht groß an deine langfristige Zukunft.
Am Strand habe ich auch nicht an meine Zukunft gedacht. Ich dachte an die Vergangenheit, als du mich nach Madrid mitgenommen hast, um mir Goya im Prado zu zeigen, weil er – wie du sagtest – mehr über den Krieg gewusst habe als jeder andere Maler. Wir gingen durch kühle Korridore, eine sanfte Mai-Brise wehte durch die offenen Fenster herein. Wir hatten den Morgen zwischen gestärkten Laken im Bett verbracht, Kaffee getrunken und uns gegenseitig mit Orangen gefüttert. Ich konnte ihren Saft noch auf deiner Haut riechen.
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