Wir brachten sie in Sanitätskraftwagen zum PAVILION, WO die Pracht ihrer Umgebung sie noch zerlumpter erscheinen ließ. Ich kann nun in aller Aufrichtigkeit sagen, dass ich den berüchtigten Schlamm der Westfront gesehen habe: blassbraune, klebrige Klumpen, die an ihren zerfetzten Uniformen und Stiefeln hafteten. Die Männer rochen dumpfig und nach altem Schweiß, ihre Finger waren schmutzig, die Nägel lang und verkrustet. Als ich sah, wie sie sich kratzten, vermutete ich Läuse. Die Aufwärter hatten schon in der Morgendämmerung begonnen, Wasser für ihr Bad zu erhitzen, und ich kann mir die Erleichterung vorstellen, die sie empfunden haben müssen, als sie sich hineingleiten ließen. Ihre Uniformen wurden in den hinteren Teil des Gebäudes gebracht und verbrannt.
Danach ging es darum, ihre Verletzungen so gut wie möglich zu versorgen, und dann brachten wir sie zu Bett, woraufhin sich Stille über den PAVILION senkte, so als ob wir alle, Patienten wie Personal, einen Moment der Ruhe brauchten.
Ich stand im Musikzimmer und schaute zu den außergewöhnlichen Kronleuchtern hinauf, die wie riesige umgedrehte Blumen aussehen, mit gemalten chinesischen Figuren auf jeder einzelnen Glasscheibe. Sie glitzern und funkeln wie magisch und hängen an einer Decke aus Tausenden von goldenen Blättern. Ich glaube, es ist wunderbar für die Patienten, im Bett zu liegen und zu ihnen hinaufzublicken.
Einer der indischen Ärzte sah, wie ich nach oben schaute. »Das sind Lotosblumen«, sagte er.
»Tatsächlich?«, erwiderte ich.
»Ja, sie sind sehr bedeutsam für uns.«
»Für uns?«
Er hüstelte ein wenig. »Inder.«
»Ah.«
»Sie stehen für Reinheit und Ehre.«
»Wie schön«, sagte ich. »Haben Sie –«
In diesem Augenblick stieß einer der Männer ein schreckliches Stöhnen aus, und ich eilte zu ihm. Als ich wieder aufblickte, war der Arzt verschwunden.
Ich könnte es nicht ertragen, wenn Robert so enden würde wie diese Männer hier. Auf dem Heimweg ging ich über die Strandpromenade, lehnte mich an das Geländer und schaute über den Kanal nach Frankreich hinüber, zu ihm hinüber, weniger als hundert Meilen entfernt. Ein starker Wind wehte vom Meer landeinwärts, und ich stemmte mich dagegen und atmete die salzige Feuchtigkeit ein. Plötzlich traf es mich, herbeigetragen vom Wind: ein fernes Grollen, gefolgt von einer Explosion, und ich begriff, dass ich die Kanonen des Schlachtfeldes hörte. Ich lauschte erneut auf das schreckliche krachende Geräusch und erschauderte, denn ich wusste, dass jede dieser Explosionen die sein konnte, die Roberts Leben ein Ende setzte.
Ich komme mir ein bisschen lächerlich vor, Suze. Mir scheint, als hätte ich zu früh verkündet, dass es mir gut geht. Es war ein herrlicher Morgen, so klar, dass ich vom Fenster aus fast bis nach Frankreich gucken konnte. Die Leute lächelten, während sie die Strandpromenade entlangspazierten; Kinder spielten auf der Minigolfanlage, Hunde jagten am Strand Stöckchen nach, ein Schwarm Kanuten hüpfte auf den Wellen. Sogar die Vögel amüsierten sich, sie kreisten hoch am Himmel und krächzten laut, als ob sie mitreden wollten. Ich wusste, dass ich raus musste – die Lebensmittel, die ich in dem Laden am Flughafen gekauft hatte, waren alle, und ich war hungrig, richtig hungrig zum ersten Mal seit Wochen. Ich musste bloß meinen Mantel anziehen und zur Tür hinausgehen, aber ich konnte nicht.
Und weißt du, warum nicht? Weil ich Angst hatte.
Ich weiß, es ergibt keinen Sinn: Josephine Sinclair, preisgekrönte Kriegsfotografin, unfähig, das Haus zu verlassen? Ich habe die letzten fünfzehn Jahre damit verbracht, die schlimmsten Orte der Welt aufzusuchen, Orte, wo Angst zu haben heißt, am Leben zu bleiben, wo Angst die einzige Reaktion ist, die Sinn ergibt. Wenn ich dort bin, kann ich es ertragen. Ich bin an Scharfschützen vorbeigerannt, tief geduckt, um nicht getroffen zu werden. Ich habe in Schützengräben neben Soldaten geschlafen, ohne zu wissen, ob wir die Nacht überleben würden. Ich bin mit Minen übersäte Straßen entlanggegangen, Schritt für behutsamen Schritt, und habe zu Gott gebetet oder welch höhere Macht auch immer da draußen sein mag, dass ich keine auslöse. Jedes Mal ermesse ich die Angst, bezwinge sie, damit ich funktionieren kann. Aber heute – ein absolut wunderschöner Tag in Brighton – gelang mir das nicht.
Ich versuchte, rational zu sein, die Risiken abzuwägen, Szenarien durchzugehen, mir selbst zu versichern, dass sie nicht eintreten würden, und mich daran zu erinnern, was ich in all den Kursen gelernt hatte, zu denen mich die Bildagentur geschickt hatte: ›Sicherheitstraining‹, ›Berichterstattung aus Kriegs- und Krisengebieten‹, ›In Gefangenschaft geraten‹. Das Problem ist, dass es dabei immer darum ging, auf das echte Leben zu reagieren, in dem es wirklich etwas gab, wovor man sich fürchten musste. Niemand hat mir je gesagt, was ich tun soll, wenn das alles nur in meinem Kopf existiert.
Ich brauchte eine Stunde, um mich zu beruhigen und aus dem Haus zu treten, und als ich die Tür hinter mir schloss, war ich immer noch in Alarmbereitschaft, meine Sinne geschärft. Ich hielt mich dicht an den Häusern, bewegte mich langsam und schaute so weit wie möglich voraus, blieb auf der Hut, schätzte die Risiken ein. Natürlich gab es keine. Brighton ging seinen Geschäften nach, Möwen kreischten, Motoren heulten auf, Menschen gingen die Gehwege entlang. Hunde zerrten an ihren Leinen, schnüffelten an Laternenpfählen, strebten auf gepflegte Grünanlagen inmitten von Plätzen zu. Er ist schön, dieser Teil von Brighton, Kemptown, fern vom Stadtzentrum, nah am Yachthafen. Innerhalb von fünf Minuten kam ich an einer kleinen Buchhandlung, einigen Pubs, einer schicken Bäckerei und einem teuer aussehenden Feinkostgeschäft vorbei.
Die St. James’s Street war schäbiger, gesäumt von Billigläden, Sozialkaufhäusern, einem Buchmacher und einem Laden, in dem man ohne Bankkonto am Zahltag ausgestellte Schecks einlösen konnte. Die schmalen Straßen, die hinunter zur Strandpromenade führten, waren gesäumt von altmodischen B&Bs; Schilder, die »Zimmer frei« verkündeten, standen in den mit Tüllgardinen versehenen Fenstern. Es war elf Uhr vormittags, Zeit des Auscheckens, und die Gäste kamen herausgestolpert und blinzelten in die Sonne.
Der Supermarkt war am Ende der St. James’s Street. Ich hatte mir die Lage gemerkt, als ich mit dem Taxi angekommen war. Macht der Gewohnheit, Suze, das Kartieren von unbekanntem Terrain.
In einem Kriegsgebiet ist Essen Treibstoff, eine funktionale Sache. Wenn man an der Front ist, ist es normalerweise kalt und mitnehmbar, etwas, das man in die Tasche stecken kann, um es hervorzuholen, wenn man es braucht. Müsliriegel, Fertiggerichte, Schmelzkäseecken. Es spielt eine große Rolle und gar keine – bei Lebensmittelknappheit nimmt man, was man kriegen kann, aber eine gute Fundsache wird mehr geschätzt als alles andere: ein winziges Stück Schokolade, das man im letzten Winkel einer Rucksacktasche findet, oder das Tütchen Nüsse, das man in Heathrow gekauft und vergessen hatte.
Weißt du noch, wie ich immer in den Supermarkt gegangen bin, wenn ich zurückkam? Ich wachte früh auf, zu aufgedreht zum Schlafen, also standen wir auf und frühstückten, dann gingst du in dein Atelier und ich zog los, um mir die beruhigenden Auslagen von Obst und Gemüse anzuschauen. Bunte Packungen, alle vor Ablauf ihres Haltbarkeitsdatums, verlockende Snacks. Das Beste war, dass ich sie ohne menschlichen Kontakt einfach so nehmen konnte. Ich schob meinen Wagen durch die Gänge und legte Waren hinein ohne Feilschen, ohne ein Wort zu wechseln, abgesehen von einem Hallo zu dem Menschen an der Kasse. Ich weiß, heutzutage ist es cool, in kleine Läden zu gehen, auf Bauernmärkte, die LadeninhaberInnen mit Namen zu kennen, aber wenn ich von einer Reise zurückkomme, will ich Anonymität, keine Verbindung knüpfen.
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