Und das führt uns zum eigentlichen Zweck dieses Buches, der zentralen Frage, über die Sie vielleicht einmal nachdenken können. In den Fragebögen, die verwendet werden, um den an Bedingungen geknüpften Erziehungsansatz zu untersuchen, werden Teenager oder Erwachsene meist gebeten, anzugeben, ob sie Sätzen wie den folgenden „stark zustimmen“, „zustimmen“, „neutral gegenüberstehen“, „nicht zustimmen“ oder „überhaupt nicht zustimmen“: „Meine Mutter bewahrte selbst bei unseren schlimmsten Konflikten ein Gefühl liebevoller Verbundenheit zu mir“ oder „Wenn mein Vater anderer Meinung ist als ich, weiß ich, dass er mich trotzdem liebt.“ 13Wie würden Sie sich wünschen, dass Ihre Kinder eine derartige Frage in fünf oder zehn oder fünfzehn Jahren beantworten würden – und was glauben Sie, wie sie sie beantworten werden?
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Liebe schenken und Liebe entziehen |
Als Wissenschaftler in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts anfingen, Erziehungsmethoden zu untersuchen, neigten sie dazu, das, was Eltern mit ihren Kindern taten, danach zu klassifizieren, ob es auf Macht oder auf Liebe beruhte. Auf Macht beruhende Erziehungsmethoden umfassten Schlagen, Schreien und Drohen. Auf Liebe beruhende Erziehungsmethoden umfassten so ziemlich alles andere. Die Forschungsergebnisse zeigten schnell, dass Macht zu schlechteren Ergebnissen führte als Liebe.
Leider wurden unter dieser zweiten Rubrik sehr viele verschiedene Strategien in einen Topf geworfen. Manche bestanden daraus, vernünftig mit Kindern zu reden und ihnen etwas zu erklären, ihnen Wärme und Verständnis entgegenzubringen. Andere Methoden jedoch waren viel weniger liebevoll. Ja, manche von ihnen liefen darauf hinaus, durch Liebe Kontrolle über Kinder auszuüben, entweder indem ihnen Liebe entzogen wurde, wenn sie sich schlecht benahmen, oder indem man sie mit Aufmerksamkeit und Zuneigung überhäufte, wenn sie sich gut benahmen. Dies sind die beiden Gesichter des an Bedingungen geknüpften Erziehungsansatzes: „Liebesentzug“ (Peitsche) und „positive Verstärkung“ (Zuckerbrot). In diesem Kapitel möchte ich untersuchen, wie diese beiden Methoden in der Praxis aussehen, welche Folgen sie haben und welche Gründe es für diese Folgen gibt. Später werde ich das Konzept der Bestrafung noch genauer betrachten.
Auszeit von der Liebe
Wie alles andere kann Liebesentzug auf verschiedene Weise und in unterschiedlichen Intensitätsgraden eingesetzt werden. An einem Ende der Skala kann ein Elternteil als Reaktion auf etwas, was das Kind getan hat, ein ganz klein wenig zurückweichen, kühler und weniger herzlich werden – vielleicht ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. Am anderen Ende der Skala kann eine Mutter oder ein Vater ganz direkt verkünden: „Ich hab dich nicht lieb, wenn du dich so benimmst“ oder: „Wenn du so etwas tust, will ich überhaupt nicht in deiner Nähe sein.“
Manche Eltern entziehen ihre Liebe einfach dadurch, dass sie sich weigern, auf ihr Kind zu reagieren – das heißt, indem sie es absichtlich ignorieren. Vielleicht sprechen sie es nicht aus, doch die Botschaft, die sie senden, ist ziemlich klar: „Wenn du etwas tust, was mir nicht gefällt, schenke ich dir keine Aufmerksamkeit. Ich tue so, als wärst du gar nicht hier. Wenn du willst, dass ich dich wieder zur Kenntnis nehme, solltest du mir lieber gehorchen.“
Wieder andere Eltern trennen sich räumlich von ihrem Kind. Dies kann man auf zweierlei Art tun. Die Mutter oder der Vater kann entweder selbst weggehen (woraufhin das Kind möglicherweise schluchzt oder in Panik schreit: „Mama, komm zurück! Komm zurück!“) oder das Kind in sein Zimmer oder an einen anderen Ort verbannen, wo der Elternteil nicht ist. Diese Taktik könnte man zutreffend als erzwungene Isolierung bezeichnen. Doch dieser Ausdruck wäre vielen Eltern unangenehm, daher wird meist eine harmlosere Bezeichnung verwendet, die uns ermöglicht, das, was wirklich dabei geschieht, nicht beim Namen nennen zu müssen. Der verbreitete Euphemismus lautet, wie Sie vielleicht schon erraten haben, Auszeit.
In Wirklichkeit ist diese sehr beliebte Erziehungsmethode eine Form von Liebesentzug – zumindest dann, wenn Kinder gegen ihren Willen fortgeschickt werden. Nichts ist verkehrt daran, einem Kind die Möglichkeit zu geben, in sein Zimmer oder an einen anderen angenehmen Ort zu gehen, wenn es wütend oder aufgeregt ist. Wenn sich das Kind selbst entschieden hat, etwas Zeit alleine zu verbringen, und wenn es alle Aspekte (wann es gehen kann, wohin es gehen kann, was es tun kann und wann es wieder zurückkommen kann) selbst bestimmen kann, wird dies nicht als Verbannung oder Strafe erlebt und ist oft hilfreich. Darum geht es mir hier jedoch nicht. Ich meine „Auszeit“ in dem Sinne, wie der Begriff gewöhnlich verwendet wird, als Urteil, das von der Mutter oder dem Vater verhängt wird: Einzelhaft.
Einen Hinweis zum Wesen dieser Methode liefert der Ursprung des Begriffs. Auszeit im pädagogischen Sinne ist dem Ausdruck Auszeit von positiver Verstärkung entnommen. Diese Methode wurde vor fast einem halben Jahrhundert zum Trainieren von Versuchstieren entwickelt. B. F. Skinner und seine Schüler bemühten sich beispielsweise, Tauben beizubringen, als Reaktion auf blinkende Lichter auf bestimmte Tasten zu drücken, und zu diesem Zweck experimentierten sie mit verschiedenen Systemen, Futter als Belohnung für das anzubieten, was die Forscher wollten. Manchmal probierten sie auch aus, die Vögel zu bestrafen, indem ihnen das Futter vorenthalten wurde oder indem alle Lampen ausgeschaltet wurden, um zu sehen, ob dies das Verhalten, auf die Tasten zu picken, „auslöschen“ würde. Die Versuche wurden auch an anderen Tierarten durchgeführt. So veröffentlichte ein Kollege Skinners im Jahr 1958 einen Artikel mit dem Titel „Verhaltenssteuerung bei Schimpansen und Tauben durch Auszeit von positiver Verstärkung“.
Binnen weniger Jahre erschienen in denselben Zeitschriften über experimentelle Psychologie mehrere Artikel mit Titeln wie „Dauer der Auszeit und Unterdrückung von abweichendem Verhalten bei Kindern“. Die Kinder, für die im Rahmen der betreffenden Studie Auszeiten verhängt wurden, wurden als „zurückgebliebene Heimkinder“ beschrieben. Doch bald wurde diese Art des Eingreifens ganz allgemein empfohlen, und sogar Erziehungsexperten, die über die Vorstellung, Kinder wie Versuchstiere zu behandeln, entsetzt gewesen wären, gaben Eltern enthusiastisch den Rat, ihren Kindern eine Auszeit zu geben, wenn sie etwas Falsches getan hatten. Rasch wurde die Auszeit zu dem „in der Fachliteratur am häufigsten empfohlenen Verfahren zur Disziplinierung vorpubertärer Kinder“. 1
Wir sprechen also von einer Methode, die ursprünglich zur Steuerung tierischen Verhaltens eingesetzt wurde. Jedes dieser drei Worte kann Anlass zu Fragen geben, die uns beunruhigen können. Dem letzten Wort sind wir natürlich schon begegnet: Sollten wir unseren Blick nur auf das Verhalten richten? Bei einer Auszeit geht es, wie bei allen Bestrafungen und Belohnungen, nur um die Oberfläche. Sie dient ausschließlich dazu, ein Geschöpf zu bewegen, etwas Bestimmtes zu tun (oder damit aufzuhören).
Das Wort in der Mitte – tierischen – erinnert uns daran, dass die Behavioristen, die die Methode der Auszeit erfanden, der Ansicht waren, Menschen unterschieden sich nicht sehr von anderen Arten. Zwar „zeigen“ wir ein komplexeres Verhalten, einschließlich der Sprache, doch die Grundsätze des Lernens sind angeblich ziemlich ähnlich. Wer diese Überzeugung nicht teilt, denkt vielleicht lieber noch einmal darüber nach, ob er bei seinen Kindern eine Methode anwendet, die für Vögel und Nagetiere entwickelt wurde.
Und schließlich bleibt noch die Frage, die sich durch dieses ganze Buch zieht: Ist es sinnvoll, der Erziehung unserer Kinder ein Modell der Steuerung, der Kontrolle, zugrunde zu legen?
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