Philosophische Überlegungen zum Geruchssinn
Dem Geruchssinn wird in der klassischen Philosophie nur ein geringes Maß an erkenntnisfördernder Intelligenz zugesprochen. Immanuel Kant stufte ihn als den entbehrlichsten Sinn des Menschen ein. Es gab unter den Philosophen auch Fürsprecher für den Geruchssinn. So notierte Arthur Schopenhauer: »Wie wir im Gesicht den Sinn des Verstandes, im Gehör den der Vernunft erkannt haben, so könnte man den Geruch den Sinn des Gedächtnisses nennen, weil er unmittelbarer als irgendetwas anderes den spezifischen Eindruck eines Vorganges, oder einer Umgebung, selbst aus der fernsten Vergangenheit, uns zurückruft.«
Geradezu ein Verfechter des Riechens war Friedrich Nietzsche. Er schrieb, dass sich »all sein Genie in seinen Nüstern befinde«. An anderer Stelle merkte er an: »Diese Nase zum Beispiel, von der noch kein Philosoph voll Verehrung und Dankbarkeit gesprochen hat, ist sogar einstweilen das delikateste Instrument, das uns zu Gebote steht.« Nietzsche betonte die Verbindung von feiner Nase, Scharfsinn und intuitivem Wittern, die es ermöglicht, »das Innerlichste – die Eingeweide jeder Seele physiologisch wahrzunehmen«. Jean-Paul Sartre meinte: »Der Geruch eines Körpers, das ist der Körper selbst, den wir durch Mund und Nase einatmen, den wir mit einem Male in Besitz nehmen, in seiner geheimsten Substanz. Der Geruch in mir, das ist die Verschmelzung des Körpers des anderen mit meinem Körper. Aber es ist dieser eingefleischte, vaporisierte Körper, der zu Geist verflüchtigt ist.«
Der Dichter Baudelaire hat poetisch vom Geruchssinn als »Sinn der zärtlichen Erinnerung« gesprochen. Die Anthropologin Annick Le Guérer betonte: »Als Sinn der Wahrheit entthront der Geruchssinn die ›kalte Logik‹, da er aus den sicheren Quellen des animalischen Instinkts schöpft, der dem Leib seine große Weisheit verleiht.«
Kulturelle und soziale Schranken des Geruchs
Die Kulturwissenschaftlerin Diane Ackerman bezeichnete den Geruchssinn als »stummen Sinn« und die blinde Schriftstellerin Helen Keller sprach vom »gefallenen Engel der Sinne«. Im modernen Westen sei der Geruch eher ein »Non-Sense«, ein »sinnliches, schwarzes Schaf«, so die Anthropologin Constance Classen. »Ein Mensch mit besonders feiner Nase erfährt durch diese Verfeinerung sicher sehr viel mehr Unannehmlichkeitez als Freuden«, schrieb der Soziologe Georg Simmel.
Nach der von Hippokrates begründeten »Miasmen-Theorie« wurden Krankheiten durch Fäulniserreger in Luft und Wasser übertragen. Der Geruchssinn (wissenschaftlich »olfaktorischer Sinn«, lat. »olfactus, das Riechen) erfuhr historisch kontroverse Bewertungen. Dementsprechend zog der Medizinhistoriker Jonathan Reinarz nach seinen Studien den Schluss, dass der Geruch durch eine klare Trennung in »gut« und »schlecht« charakterisiert werde. Ähnliches hat der französische Historiker Alain Corbin in seinem Buch Pesthauch und Blütenduft betont.
Die Polarisierungen des Geruchs verlaufen entlang mehrerer Trennungslinien:
- zwischen religiösen Glaubensgemeinschaften und Ungläubigen
- zwischen Männern und Frauen
- zwischen unterschiedlichen Kulturen und sozialen Schichten.
Den »Wohlgerüchen« von Priestern und Gläubigen, die duftende Rauchopfer zum Himmel sandten, wurde »der Gestank« von Hölle und Ungläubigen gegenübergestellt.
Während Männer scheinbar kräftig und potent rochen, sollten Frauen sich während der »unreinen« Menstruation verbergen. Andere wurden als »stinkende« Hexen und Huren (lat. »putidus«, altfranz. »pute«, stinkend) gebrandmarkt. Heute unterscheiden sich die »verführerischen Düfte« weiblicher Parfüms von »herb männlichen Duftnoten«. Durch zeitgenössische Verschiebungen von Geschlechterbildern ergeben sich inzwischen jedoch mehr Überschneidungen.
Kulturell und sozial wurden Fremde häufig als schlecht riechend eingestuft, nicht nur wegen ihrer ungewohnten Ernährungsgewohnheiten, sondern auch aus Angst vor möglicher Ansteckung. Solche Ängste finden sich in allen Kulturen.
Machtunterschiede zwischen der parfümierten Herrschaftsschicht und den Gerüchen des niederen Volks bildeten eine weitere Trennungslinie. Infolge der städtischen Hygienereformen des 19. Jahrhunderts wurden »Ausdünstungen der Armut« neben der Betonung von krankheitserregenden Gefahren, immer auch moralisch bewertet. Heute kann man zudem eine »Geruchsgeografie« von städtischen Zonen entlang der Luftqualität in Industrievierteln, städtischen Ballungszentren, öffentlichen Parkanlagen und sozialen Milieus feststellen.
Geruchslandschaften
In den letzten dreißig Jahren hat der Geruchssinn deutlich mehr Aufmerksamkeit erfahren. Durch veränderte technische Möglichkeiten sind neue wissenschaftliche Untersuchungen dieses »chemischen Sinns« möglich geworden. Sie zeigten die große Plastizität des Geruchssinns und seiner sich bis ins Alter ständig erneuernden Riechzellen.
Der menschliche Geruchssinn hat im Wesentlichen drei verschiedene Aufgaben: die Beurteilung von aufzunehmender Nahrung, die Erkennung und Vermeidung von Umweltgefahren aus der Luft und die soziale Kommunikation.
Wir beschnuppern Speisen und deren Düfte sowohl mit Nase als auch durch den Gaumen. Ihr Geruch beeinflusst unseren Hunger und unseren Appetit. Grundlegende individuelle Geruchserfahrungen erfolgen bereits intrauterin, und der Geruch der Mutterbrust ist für Säuglinge von großer Bedeutung. Was wir schmecken wird zum großen Teil bestimmt durch das, was wir riechen.
Gerüche der Umwelt können durch Bakterien aller Art sowie durch schlechte Luft, Feuer und Rauch, Gifte oder Chemikalien verursacht sein. Andererseits adaptieren wir uns rasch durch wiederholte Exposition an Gerüche. Solche Effekte können schon in wenigen Minuten eintreten. »Ein Geruch, der über längere Zeit unverändert bleibt, wird meist ausgeblendet«, so der Dresdener Geruchsforscher Thomas Hummel.
Im sozialen Austausch von Sympathie oder Antipathie, insbesondere bei sexueller Anziehung, aber auch bei Ausdünstungen durch Krankheiten, spielt das Riechen eine wichtige Rolle. In der Kommunikation mit anderen Menschen kann deren Gesichtsausdruck Einfluss nehmen darauf, welchen Geruch wir verstärkt wahrnehmen und wie wir diesen bewerten.
Im höheren Alter nehmen Riechstörungen (»Anosmien«) und die damit einhergehenden gesundheitlichen Einschränkungen deutlich zu. Die durch sie bewirkten Beeinträchtigungen der Lebensqualität sind weit verbreitet. Zudem können Riechstörungen erste Hinweise auf neurodegenerative Erkrankungen wie Morbus Parkinson oder Morbus Alzheimer geben. Ob und wie Riechstörungen durch Training teilweise behoben werden können, wird weiter erforscht.
Durch ihre besonderen neurobiologischen Vernetzungen prägen Gerüche mehr als die anderen Sinne das Gedächtnis. Dies kann zwar stabilisierende, positive Assoziationen bewirken, aber auch die gezielte Beeinflussung von Umwelt, Märkten und Vorlieben ermöglichen, die manipulativ genutzt werden können. In der Wissenschaft spricht man vom »chemical signaling« und von Botenstoffen, die unser zwischenmenschliches Miteinander beeinflussen.
Der Soziologe Georg Simmel hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts angemerkt, dass die soziale Frage nicht nur eine ethische, sondern auch eine »Nasenfrage« sei. Er bezeichnete den Geruchssinn als »dissoziierenden Sinn«, der wesentlich für die Distanziertheit des Großstadtmenschen verantwortlich sei. »Dass wir die Atmosphäre jemandes riechen, ist die intimste Wahrnehmung seiner; er dringt sozusagen in luftförmiger Gestalt in unser Innerstes ein, und es liegt auf der Hand, dass bei gesteigerter Reizbarkeit gegen Geruchseindrücke überhaupt dies zu einer Auswahl und einem Distanznehmen führen muss, das gewissermaßen eine der sinnlichen Grundlagen für die soziologische Reserve des modernen Individuums bildet.«
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