Manche Korrespondenz ist im affektreichen, hohen Ton der damaligen Zeit gehalten. Viele waren sich des edlen Geistes von Novalis bewusst, der meinte, »der wahre Brief« sei »seiner Natur nach poetisch«. Eine Prise Emotion – zuweilen mehr scharfer Pfeffer als Salz in der Suppe – gab dem Ganzen Würze im Sinne von Byron, der von sich behauptete, er sei »kein behutsamer Briefschreiber und sage gewöhnlich, was sich mir im Augenblick gerade aufdrängt«. 180Der Briefwechsel von Clara und Johannes war eine Mischung aus beidem. Als er begann, war das moderne Postwesen gerade kaum mehr als ein Jahrzehnt alt. Erst gegen Ende der 1830er-Jahre waren in Großbritannien und den deutschsprachigen Landen der Regierung Konzepte vorgelegt worden, ein Briefporto und Postwertzeichen einzuführen, damit der Zustellbetrag nicht mehr vom Empfänger, sondern vom Absender entrichtet werden musste. Für die Vorauszahlung wurde die Beförderungssumme gesenkt, sodass nicht nur Wohlhabende das neue Kommunikationsmedium nutzen konnten. Dennoch zeigte sich wieder die Krux der Zeit: Zwar versuchten sich die einzelnen deutschen Regionen in einem Deutsch-Österreichischen Postverein zu organisieren, aber jedes einzelne Herzog- und Königtum musste sich eigene Post- und Beförderungsgesetze geben – ein lästiger Regelungswirrwarr, den Clara und Johannes erlebten, weil sie oft genug auf Reisen waren. Aus Sorge, dass Korrespondenz verlorengehen könnte, ließ Clara anscheinend ihre Briefe bei der Post registrieren, um die korrekte Zustellung zu überprüfen, denn Johannes schrieb ihr eines Tages: »Ich möchte Dich bitten, doch nicht immer Deine Briefe rekommandieren [ sic , als Einschreiben zu senden]«, denn »es macht dem Briefträger oft viele Lauferei, und wieviel nutzt es denn?« 181
Das Verfassen von Briefen wurde nicht selten zu einem Ventil. Die Jahre des Kennenlernens waren durch Robert Schumanns Erkrankung geprägt von existenziellen Krisen, bei denen gewiss mehr als einmal die Nerven blank lagen. Die in viel stärkerem Maße zu emotionalen Zusammenbrüchen neigende Clara bedurfte eines hohen Grades der Anteilnahme und der Zusicherung von Verlässlichkeit. Ob diese Bedürfnisse jemals durch zärtliche Berührungen oder sexuelle Handlungen erfüllt wurden, ist nicht überliefert. Die Korrespondenz deutet darauf hin, dass es sich eher um eine freundschaftliche bzw. geschwisterliche Zuneigung gehandelt hat, die vielfach an den gängigen schwärmerischen Tonfall aus Briefen und Poemen des 19. Jahrhunderts erinnert. Ebenso charakteristisch für diese Zeit ist der verbreitete Wunsch von Privatleuten, dass das Schreiben niemand anderes zu Gesicht bekommen, ja sogar, dass es am besten den Flammen übergeben werden solle. Johannes äußerte sich skeptisch gegenüber der »in den fünfziger Jahren entstandenen Editions- und Sammelwut« und meinte, nicht jedes Nebenprodukt eines Künstlers müsse – wie in der Schubert-Ausgabe – überliefert werden. »Schumann hat da allerlei hinterlassen, was keineswegs herausgebenswert war«, äußerte er gegenüber Heuberger. »Frau Schumann hat erst vor ein paar Wochen ein Heft Cellostücke von Schumann verbrannt, da sie fürchtete, sie würden nach ihrem Tode herausgegeben werden. Mir hat das sehr imponiert. Auch mit unserem Briefwechsel (Brahms – Clara Schumann), dem einzigen intimen Briefwechsel, den ich führte, machten wir’s ähnlich. Vor ein paar Jahren haben wir unsere Briefe ausgewechselt, ganze Stöße! Sie verbrannte die ihrigen, während ich die meinigen von der Rheinbrücke in Köln aus in den Fluß warf. Von Zeit zu Zeit wechseln wir wieder die Briefe aus.« 182Unter einem »intimen Briefwechsel« verstand man im 19. Jahrhundert eine äußerst vertraute, gesprächsartige Korrespondenz, die keineswegs mit einer körperlichen Beziehung einhergehen musste (Brahms’ Tempobezeichnung »Andante con grazia ed intimissimo sentimento« im Opus 116, Nr. 5, könnte auf ein gemütliches Beisammensein Bezug nehmen). Dass sowohl Clara als auch Johannes später viele ihrer Briefe vernichteten, dürfte nicht an einer »War’s schön letzte Nacht?«-Korrespondenz gelegen haben, sondern an zahlreichen unverblümten Äußerungen über andere Personen. In einem überlieferten Brief, in dem es um Konflikte an verschiedenen Fronten ging, kam Clara bereits Ende 1864 darauf zu sprechen, dass sie »so manches noch zu sagen und zu plaudern« hätte, »doch mündlich tut sich das so viel gemütlicher«; schließlich fügte sie in dem in Düsseldorf verfassten Schreiben noch ein P.S. an mit dem Hinweis: »Ich habe die Briefe mit hierher genommen, und willst Du es nun, so bringe ich Dir alles mit? Oder glaubst Du die Sachen sicherer bei mir in Baden, so nehme ich sie im Frühjahr mit dorthin?« 183Da allein schon die später nur bruchstückhaft veröffentlichte Korrespondenz viele brisante Kommentare über einige Mitbürger enthielt, erscheint es verständlich, dass man den größten Teil dieser Dokumente später vernichtete.
Immerhin befanden die Angehörigen einen vor Zuneigung überfließenden Brief von Johannes des Überlieferns wert, der Ende Mai 1856 geschrieben wurde, also zwei Monate vor Roberts Tod: »Meine geliebte Clara, ich möchte, ich könnte Dir so zärtlich schreiben wie ich Dich liebe und so viel Liebes und Gutes tun, wie ich Dir’s wünsche. Du bist mir so unendlich lieb, dass ich es gar nicht sagen kann. In einem fort möchte ich Dich Liebling und alles mögliche nennen ohne satt zu werden, Dir zu schmeicheln.« Dass diese »Liebe« ein Ausdruck hoher Wertschätzung ist und keine erotische Konnotation hat, zeigt der humorvoll-schäkernde nächste Satz: »Wenn das so fort geht, muß ich Dich später unter Glas setzen oder sparen und in Gold fassen lassen.« 184
Ihr Leben lang verwendete Clara Schumann in Briefen an Brahms Wendungen wie »Liebster Johannes«, 185»mein geliebter, verständiger Freund«, 186»in alter Liebe«, 187»in treuer Liebe«, 188»mein Herzens-Freund« 189oder dass sie ihn »liebe und verehre«. 190Und Brahms hoffte: »Möge ich Dir immer Freude machen und Deiner Freundschaft werth werden.« 191
Das gelang allerdings nicht immer, denn auch Johannes hatte dunkle Stunden und melancholische Phasen, womit Clara weniger gut umgehen konnte. Trotz gelegentlicher Meinungsverschiedenheiten wussten beide jedoch, dass sie sich im Ernstfall aufeinander verlassen konnten. »In Allem was mich angeht, warst Du und wirst Du sein als wenn ich Dir ganz angehöre«, schrieb Johannes. 192»Vielleicht fügt sich später einmal Alles glücklicher«, glaubte Clara, »vielleicht leben wir doch noch einmal in einer Stadt, und dann wird mir ein ruhigeres Leben Bedürfniß sein – im Zusammenleben mit einem geliebten Freunde könnte ich, glaube ich, noch wieder Ruhe und Heiterkeit finden.« 193Insbesondere über Wien meinte Clara, sie »finde es so übel nicht, möchte schon auch dort leben, fände ich dort, was ich brauchte.« 194Schwierig war letztendlich, einen Ort zu finden, der jedem der beiden das bot, was er benötigte. Claras Stoßseufzer »Was mit uns später wird, der Himmel weiß es! – ich sinne und sinne, in welche Stadt ich mich wenden soll!« sollte sie bis gegen Ende der 1870er-Jahre hinein umtreiben. 195
Schmerzen und Todessehnsucht
Sechs Wochen bevor sie 37 Jahre alt wurde, glaubte Robert Schumanns Witwe, ihre Aufgabe erfüllt und ihr Dasein verwirkt zu haben. Sie versank in schwere Depressionen und hätte sich nie vorstellen können, dass die spannendsten vierzig Jahre ihres Lebens erst noch vor ihr lagen. »Wie oft muß ich an den leeren Platz, der noch in seinem Grabe ist, denken, den ich einstens ausfüllen werde, und doch so gern schon jetzt da läge!«, teilte sie einer Freundin mit. 196Und Joseph Joachim ließ sie wissen, wie ihr »der Schmerz im Innersten wühlt« und es immer wieder Stunden gebe, in denen ihr »aller Lebensmuth schwindet«, denn »meine Nerven sind in hohem Grade angegriffen«. 197»Freilich gebe ich Concerte, aber unter welch inneren Qualen?«, schrieb sie noch zwei Jahre nach Roberts Tod. »Meine Gesundheit geht dabei zu Grunde.« 198Monatelang fand sie, es sei ihr »bei meinem Gemüthszustand ganz unmöglich erheiternd anzuregen«. 199Selbst als sie das Rheinland mit den damit verbundenen Erinnerungen hinter sich lassen wollte und im Herbst 1857 endlich nach Berlin zog, durchlebte sie in Gedanken »die ganzen drei Leidensjahre« wieder von Neuem und begann »erschüttert an Leib und Seele« eine neue Lebensphase. 200»Hätte ich meine Kinder erst Alle erwachsen und versorgt, dann dürfte ich mir doch ohne Unrecht den Tod wünschen«, sinnierte sie. 201
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