Es geht hier darum, den Diamanten des Geistes von immer neuen Seiten her zu beleuchten, um die unzähligen Facetten und wunderbaren Funktionen dieses wunscherfüllenden Juwels aufleuchten zu lassen. Wenn wir dann das Licht der Aufmerksamkeit zurückwenden, so werden wir den verborgenen Schatz entdecken, der in unserem Herzen und im Herzen eines jeden fühlenden Wesens als Quelle des Lichts und der Erscheinung und als unser wahres Selbst und ewiges Leben wohnt.
Mögen alle Wesen – in welchem Körper, in welchem Bereich, in welchem Lebenstraum sie sich gerade auch befinden mögen – in diesem Augenblick innehalten und, zurückschauend auf ihr eigenes Sehen, sich selbst als leeres Gewahrsein erkennen: frei von Geburt und Tod.
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Vanitas oder Der Traum des Sisyphos
Verlieren und wieder verlieren ist der Weg des Tao.
Laotse
Der Weise ist frei von Geschäftigkeit, der Tor ist gebunden durch sich selbst.
Szoszan
Weise erblicken nichts, was zu tun wäre, wie Schlummernde ruhen sie in sich selbst.
Ashtavakragita
Halte an nichts fest, und du wirst frei sein, wo immer du auch bist.
Rinzai
Was ein gutes und sinnerfülltes Leben ist und wie es verwirklicht werden kann, war seit der griechischen Antike bis in die frühe Neuzeit hinein auch im Westen das eigentliche Thema der Philosophie, und in den meisten Überlegungen hierzu zeigt sich, dass die Suche nach dem Sinn unseres Lebens von der Suche nach einem Zustand bleibenden Glücks und innerer Zufriedenheit nicht zu trennen ist.
Für Aristoteles führte ein gutes Leben zum Zustand der »Eudaimonie«, zu einem »glücklichen Geist«, in dem unser Wesen schließlich alle in ihm angelegten Qualitäten des höchsten Guten in sich selbst erkennt und so Ganzheit erlangt. Auch für ihn, den Schüler des Platon, ist tugendhaftes Handeln und Selbsterkenntnis noch der Weg zu wahrer Glückseligkeit, und der Erwerb vortrefflicher Tugenden, Fähigkeiten und Charaktereigenschaften auf dem Weg ist ihm das Zeichen eines geglückten Lebens.
Den Lehren Platons habe ich in diesem Buch viel Raum gewidmet, da sie das wichtigste Bindeglied zwischen der wahren, einer zeitlosen Lebensweisheit verpflichteten Philosophie des Westens und den philosophischen Lehren des Buddhismus und des Hinduismus darstellen.
Der Sisyphos-Mythos ist eine immer wieder berührende lehrhafte Darstellung der Conditio humana, und als solche wurde sie in der Antike auch gern erzählt. In der existenzialistischen und marxistischen Auffassung des Mythos wird Sisyphos als ein treffendes Bild für den modernen Menschen in seiner »Geworfenheit« betrachtet, ein Held des Absurden und der Arbeit, welcher den alten Göttern widersteht und mutig ihrem Gebot entgegenhandelt. Weil er so schlau ist, gelingt es ihm mehrmals, Thanatos, den Tod, zu überlisten. Durch einen Trick entflieht er diesem sogar einmal aus dem Hades, und zur Strafe wird er zwar von den Göttern zu einer sinnlosen, sich immer wiederholenden Tätigkeit verdammt, aber er ist stolz auf seine Kraft und seinen Widerstand und lässt sich nicht entmutigen.
Trotz der »vollkommenen Sinnlosigkeit« seines Tuns führt er seine monotone Arbeit mit munterem Sinn aus, und: »Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen«, so heißt es am Ende des bekannten existenzialistischen Essays von Camus über den Mythos des Sisyphos.
Es ist interessant zu beobachten, wie in dieser gewagten Umdeutung aus dem, was den Griechen der Antike noch eine Strafe und Verdammung war – weil Sisyphos ähnlich dem Prometheus, der das Feuer stahl, in seiner Hybris gegen göttliches Gesetz verstoßen hatte –, für moderne Denker nun ein Gleichnis für den Normalzustand des heutigen Menschen und seines angeblich sinnlosen Lebens geworden ist.
Ich erwähne dies hier nur deswegen, weil auch heute noch viele, vor allem junge Menschen, vom deprimierend nihilistischen Denken des Existenzialismus und Absurdismus geprägt und beeinflusst werden, denn im schulischen und im universitären Rahmen sind diese Denkrichtungen immer noch en vogue.
In der zeitgenössischen akademischen Philosophie gelten die Themen »Sinnsuche« und »Lebenskunst« schon seit Längerem als überholt, als veraltet und kindisch, um nicht zu sagen: als Fauxpas – von Gedanken über die Natur des Geistes vor jedem Gedanken gar nicht zu reden. Sieht man doch in der Nachfolge Descartes’ stehend das eigene Sein als mit dem gehirnlichen Denkprozess identisch und von diesem abhängig an.
Man möchte sich als professioneller Denker, als originell und auf der Höhe der heutigen Zeit und Wissenschaft zeigen und sicher nicht als Idealist – als rückwärtsgewandt, unwissenschaftlich oder gar religiös auffallen.
Man kann über vieles nachdenken und immer neue Auffassungen formulieren, doch im Grunde sind in der westlichen Philosophiegeschichte, was das Verständnis der ganzheitlichen Natur des Menschen und seiner Erfahrungen und Welt betrifft, Platon und sein später Schüler Plotin unübertroffen und oft von zeitloser Aktualität.
Die Natur muss nicht korrigiert und verbessert, die Wirklichkeit kann und braucht nicht erfunden und erdacht werden, sie ist immer schon da. Sie ist das, was ist, oder »Thatata« – die »Soheit« des Seins. Wir lernen gut, und auch große Erfindungen sind möglich, wenn wir durch direkte Beobachtung von der Natur lernen.
Die Suche nach gewollter Originalität ist eine Sache des Verstandes und führt nur in immer neues verwirrtes Denken, in immer neue persönliche Ansichten.
Das Erkennen der Wahrheit aber ist völlig unpersönlich, denn je weniger man das Geschaute interpretiert, umso unmittelbarer schaut man die Wahrheit.
Es gibt natürlich im Grunde nichts Neues im Wesen und Funktionieren unseres Geistes und auch nichts Neues in der Beschaffenheit eines menschlichen Körpers und der sechs Sinne. Sie waren beide zur Zeit des Buddha und lange davor schon dieselben wie heute.
Als der Buddha am Anfang seines öffentlichen Wirkens einmal gefragt wurde, warum er lehre, antwortete er: »Ich lehre, weil alle Wesen glücklich sein wollen und niemand leiden will.« Als er dann des Weiteren gefragt wurde, was er denn lehre, antwortete er: »Ich lehre, wie die Dinge sind.«
Direkt an die unmittelbare Erfahrung jedes Menschen anknüpfend, lehrte der Buddha zuerst, der »Vergänglichkeit aller Erscheinungen« gewahr zu werden und sich durch direkte, nichturteilende und ruhige Beobachtung von dieser Wahrheit selbst zu überzeugen. Auch lehrte er, sich mit offenem Geist und Herzen des Leidens und der Unzufriedenheit als allgegenwärtig in der täglichen Erfahrung aller Wesen und im eigenen Geist gewahr zu werden und Geburt, Krankheit, Alter und Tod als die natürliche Folge unseres Geborenseins in einem Körper zu erkennen. Unser Geborenwerden in einem materiellen Körper erklärte er als eine natürliche Folge unseres Lebensdurstes und unseres Festhaltens an flüchtiger Erscheinung. So legte er die Hand auf den Puls eines jeden Wesens wie ein guter Arzt, und nach der Diagnose des Leidens lehrte er »die Ursachen des Leidens«. Nämlich dass zwar alle Wesen glücklich und gesund sein wollen, aber wegen ihrer offensichtlichen Unvernunft oder Unwissenheit die allesamt vergänglichen Phänomene ihrer Erfahrungswelt festhalten, so als ob sie bleibend wären. Durch diese falsche Annahme und Prämisse geht der Einklang mit der Natur der Dinge verloren, und eine Kette von Fehlwahrnehmungen und falschen Interpretationen entsteht daraus, die unweigerlich zu Leiden und Enttäuschung führen.
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