Wenn wir nur noch positive Träume haben, die häufig luzide sind und im Wachzustand kaum mehr Störgefühle erfahren, so ist dies das einzig sichere Zeichen, dass unser Üben wirklich in die Tiefe gedrungen ist und dass die positiven Tendenzen in uns oder das »Bodhicitta«, der luzide Geist von Weisheit, Achtsamkeit und Mitgefühl, nun in unserem Erleben im Wachen und Schlafen vorherrschend geworden sind. Damit ist schon viel vom großen Werk erreicht, und wir haben, was die relative Wirklichkeit betrifft, viel positives, verdienstvolles Karma angesammelt, das uns nun trägt.
Der andere Aspekt des Wegs, die Ansammlung von Weisheit, wird durch die häufige Übung des völlig gelassenen Ruhens im Zustand reinen Gewahrseins, frei von allen Gedanken und in der inneren, wortlosen Gewissheit »Alle Erfahrung ist Traum« vollendet.
Gelingt es uns, im Urzustand des Geistes, in der Untrennbarkeit von luzider Klarheit und völliger Offenheit unabgelenkt zu ruhen, so erfahren wir alle Gedanken, Erscheinungen und Visionen immer mehr als die spontanen Manifestationen des klaren Lichts unseres eigenen Geistes.
Wenn wir gelernt haben, alle dualisierenden Gedanken der Selbstbefreiung zu überlassen, erleben wir die Vielfalt der Erscheinungen als eins mit uns selbst, frei von einem Gefühl von Subjekt oder Objekt. Und wenn diese alldurchdringende Luzidität andauert und kontinuierlich wird, haben wir vollkommene Erleuchtung erlangt.
Wenn wir ab jetzt jeden Tag so leben, als ob es unser letzter wäre, werden wir keine Zeit mehr verlieren und uns, ohne zu zögern, der Übung der Selbstbefreiung aller Gedanken widmen. Wie jemand, der plötzlich entdeckt, dass sein Haus in Flammen steht, werden wir alles zurücklassen und versuchen, ins Freie zu entkommen. Ins Freie zu entkommen bedeutet im Dzogchen, in die Freiheit von allen Gedanken zu kommen, in den weit offenen Raum des Gewahrseins, frei von jedem Bezugspunkt.
Im Wachzustand haben wir die Freiheit, Körper, Atem und Geist zur Ruhe kommen zu lassen und den Antrieben der aufsteigenden Gefühle und Gedanken nicht zu folgen. Im Traum und im Postmortem haben wir diese Freiheit jetzt noch nicht und sind, wie das Totenbuch sagt, gleich einem trockenen Blatt im Wind, den Antrieben unserer alten Gewohnheitsmuster ausgeliefert. Nur jetzt, im Bardo dieses Lebens und hier vor allem im Wachzustand, besitzen wir genügend Stabilität, Luzidität und freien Willen, um uns einsgerichtet der geistigen Übung des Wegs widmen zu können; und so heißt es im Evangelium: »Wachet und betet, denn der Teufel geht umher und sucht jene, die er schlafend findet zu verschlingen.«
Die »Übung der Wachsamkeit«, die darin besteht, weder schlechte noch gute Gedanken in die Burg des Herzens, wo unser wahres Selbst, wo der Meister als unser eigenes Gewahrsein und Gewissen immer gegenwärtig ist, eindringen zu lassen, ist in allen Systemen kontemplativer Geistesschulung das innerste, formlose Exerzitium.
»Freiheit von allen Gedanken ist der höchste Gottesdienst und das höchste Opfer«, lehrte Nisargadatta Maharaj. Geistige Freiheit besteht nicht nur darin, sich dieses und jenes vorstellen zu können – erst wenn der Geist beliebig lang ohne jede Vorstellung in tiefem Frieden in sich selbst ruhen kann, hat er die Freiheit, zu denken und zu glauben, was er will.
Es ist die Fähigkeit, den Geist auf eines allein zu sammeln und ihn, in diesem Einen, zu unzerstreuter Ruhe und Stabilität kommen zu lassen, welche dann als ein zweifelsfreier Glaube, wenn er sich auf etwas richtet, Wunder und Zeichen vollbringt und die imaginierten Naturgesetze eines kleineren Glaubens überschreiten kann. »Gehe hin in Frieden, du bist gesund!«, sagt der vollendete Meister der Kunst, der sich selbst und damit die Welt überwunden hat, und es verwirklicht sich im selben Augenblick.
»Wenn man keine Gedanken mehr hat, kommen die besten Gedanken«, so lautet ein tibetisches Sprichwort. Es weist darauf hin, dass Intuition an die Stelle des Verstandes tritt, wenn wir dem Denken nicht mehr folgen. Und diese zeigt sich in uns, wenn wir regelmäßig meditieren, immer verlässlicher.
Wächst unsere Vertrautheit mit dem Zustand nichtkonzeptueller Wachheit, und können wir Geistesruhe und Luzidität auch im Bardo-Zustand des Schlafs bewahren, so können dadurch allmählich die Ursachen aller Fehlwahrnehmung und allen Leids gründlich gereinigt werden. Diese sind die zwei Arten der Ignoranz, das heißt erstens jene, die im »Verlust der Luzidität in der Begegnung mit der eigenen Vision« besteht, und zweitens »die Ignoranz, welche alles begrifflich erfassen will«. Die karmischen Spuren von Verdrängung, Aversion und Anhaftung im Speicherbewusstsein lösen sich nach und nach von selbst in das klare Licht des Geistes auf. Dadurch, dass wir unseres Gewahrseins wieder gewahr werden und es nicht mehr vergessen, und dadurch, dass wir lernen, gelassen zu bleiben und alle Gedanken direkt ihrer natürlichen Auflösung zu überlassen, werden diese zwei grundlegenden Arten der Nichtluzidität aufgehoben, und wir sind wieder erleuchtet und erlöst.
Gelungene Individuation im Sinne des Dzogchen bedeutet, zu unserer wahren Individualität als der Untrennbarkeit von Leerheit und Gewahrsein zu erwachen. In der Erleuchtung aber gewinnen wir nichts Neues, sondern sind lediglich nach langem Schlaf und vielen unbewussten Träumen zu unserem Urzustand, zum völlig luziden Wahrnehmungsmodus eines »Buddha«, das heißt eines »völlig erwachten Wesens«, zurückgekehrt.
Wer nach dem Sinn seines Lebens fragt, der nähert sich dem Sinn; und verläuft seine Suche glücklich, so führt sie ihn von außen nach innen – schließlich sein eigenes Sinnen und sein Sein als eins erkennend, kommt dieses Wesen wieder in sich selbst zur Ruhe, wenn es dereinst den, der sucht, also sich selbst, gefunden und erkannt hat.
Es ist diese Kreisbewegung im Grunde die Bewegung des Geistes in sich selbst, im allumfassenden Kreis des Lebens, welcher im Dzogchen »der Pfad« genannt wird. Zu ihm gehören alle Erfahrungen des In-die-Irre-Gehens und alle Erfahrungen auf dem Weg zurück zur Erleuchtung, die wir im Daseinskreislauf in vielen Leben und Existenzformen gemacht haben und noch machen werden. Sie alle sind im großen Raum des Gewahrseins erschienen und erscheinen darin, sie erscheinen in ihm und aus ihm als der Basis und Quelle alles Erfahrbaren, und sie lösen sich in ihm wieder auf.
Wenn wir uns selbst wieder als leeres, unwandelbares Gewahrsein erkennen, sind wir angekommen – sind frei vom Kreislauf zwanghaften Denkens und Strebens und damit frei von Geburt und Tod.
Den verborgenen Schatz entdecken
Ich hoffe, so einen kleinen Überblick über die Themen des Buchs gegeben zu haben, und bitte meine geneigten Leser hier auch um Geduld, wenn bestimmte Begriffe wie »Natur des Geistes«, »Gewahrsein«, »Luzidität«, »Weisheit«, »Liebe«, »Störgefühle« oder »Vergänglichkeit« in den folgenden Kapiteln immer wieder auftauchen. Es lässt sich leider nicht vermeiden und ist auch in den tibetischen Texten zum Thema nicht anders, denn wir sprechen hier immer über dasselbe, nämlich über unseren eigenen Geist und seine Wahrnehmungen. Und worüber könnte man sonst auch sprechen? We talk about the furniture of our own house.
Gewiss hat der Buddhismus im Laufe seiner Geschichte und Selbsterforschung das reichste Vokabular in Bezug auf Geist, Bewusstsein, Sinneserfahrung, Wahrnehmungsmodi in Verbindung mit seinen stofflichen oder energetischen Körpern hervorgebracht, und so werden im Abhidharma, als ein Beispiel unter vielen, achtzig gedanklich-emotionale Geisteszustände oder sechzehn Arten der Erfahrung von Leerheit mit spezifischen Namen genannt, aber es ist nicht möglich, sie alle zu »übersetzen«; und es ist zum Verständnis des Wesentlichen auch nicht nötig, sie alle zu kennen. Denn sie kommen auch in den mündlichen Belehrungen der tibetischen Meister selten vor. Hier ist es mir ein Anliegen, die wesentlichen Dinge so einfach und verständlich wie möglich darzustellen.
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