Schröder auf einem Fahrrad, dachte ich und musste lachen. Und dann fiel mir wieder die letzte Nacht ein, als mir war, als hätte ich ein Fahrrad aus dem Garten fahren sehen. Und woher hatte er gewusst, dass das Küchenfenster offen war? Und natürlich hatte er eine Nelke im Knopfloch. Aber warum sollte er ... Meine Überlegungen wurden unterbrochen, weil Schröder mit den Tickets winkend angaloppiert kam. „Checking in for checking out“, murmelte er mit zusammengebissenen Zähnen und winkte mir mitzukommen.
„Das hat aber lange gedauert.“
„Findest du? Ich fand, es ging schnell wie der Blitz. Aber – Zeit ist relativ ... Wir haben reichlich Relativität.“
„Kannst du deinen Mantel nicht selbst nehmen?“
„Was für ein Gemecker!“ Er schnappte sich den Mantel, die Aktentasche durfte ich tragen.
Danach verlief alles erstaunlich reibungslos. Schröder hatte keinen einzigen Ausbruch, obwohl die Frau beim Einchecken offenbar Engländerin war und seinen Namen mal wieder wie Skröder aussprach. Nicht einmal das brachte ihn zum Explodieren, er seufzte nur und korrigierte sie freundlich.
Was ist bloß los mit ihm, dachte ich. So habe ich ihn noch nie gesehen. Wirklich noch nie.
Im Duty-free-Shop schnaubte er jedenfalls nachdrücklich, als es keine Gitanes gab. „So was von kleinkariert“, stöhnte er, was mich freute, denn so war er allmählich wieder der Alte.
Bei den Weinregalen wählte er lange und entschied sich schließlich für zwei Flaschen. „Mhmm ... Château Mouton Rothschild 1990. Nicht schlecht. Sind ja nicht gerade billig, aber was soll’s ...“
Nicht gerade billig? Ich dachte, die Kasse funktioniert nicht, als ich die grün leuchtenden Zahlen las. Hatte sie den Preis in Lire umgerechnet? Zwei Flaschen Wein können doch wohl nicht ein paar tausend Kronen kosten, oder?
„Es kommt auf den Wein an, mein Junge. Und das hier ist was anderes als der Landweinessig, den dein Vater zu Hause hat.“ Er reichte der Kassiererin stolz seine American Express Karte, sie konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, als sie seine Unterschrift sah.
„Bist du da sicher?“
„Na klar. Wir haben noch fünfzehn Minuten Zeit. Komm.“
Er ging zur Bar. „Willst du was trinken?“ Ich schüttelte den Kopf. Er nahm ein Tablett, stellte ein Glas darauf und streckte sich nach einer Flasche Tuborg Export. Als wir zur Kasse kamen, schaute er zerstreut aufs Etikett. „Zum Teufel auch, das ist ja in Schweden gebraut!“ Der dunkelhäutige Kassierer zuckte zusammen und schaute ihn verständnislos an. „Wenn ich ein Tuborg trinke, dann soll es verdammt noch mal dänisch sein!“ Der Kassierer sah erschrocken aus und warf mir einen Hilfe suchenden Blick zu. Ich schüttelte den Kopf und machte eine Handbewegung, die „halb so wild“ bedeuten sollte. Schröder nahm die Flasche, lief davon und kam gleich mit einer Dose Carlsberg Elefant wieder. Der Kassierer stöhnte und wusste nicht, was er machen sollte. „Um Himmels willen, du wirst doch wohl, zum Teufel, eine Korrekturtaste haben?!“
„Ist das denn nicht sehr stark?“, fragte ich, um einen längeren Wortwechsel zu vermeiden.
„Tsss ...“ Er bezahlte und setzte sich an den nächsten Tisch. Warf den Mantel über einen Stuhl, zündete eine Gitanes an und schenkte sich Bier ein.
„Ja, verdammt ...“, sagte er betrübt und seufzte tief.
„Du wirkst ein bisschen niedergeschlagen“, sagte ich vorsichtig.
„Niedergeschlagen? Nicht so schlimm. Ich verspüre nur eine wahnsinnig hoch und frei fliegende Furcht gewissermaßen ... Aber es ist doch klar, dass man ein bisschen nachdenklich wird, wenn man sterben muss.“
„Wie? Wieso sterben?“
„Sterben, Abnibbeln. Dahinscheiden. Morire.“
„Warum solltest du sterben?“
„Ich bin überzeugt davon, ganz einfach. Wenn du weiterleben willst, solltest du nicht mitkommen.“
„Aber warum denn – ich meine …“
„Doch. Es ist unausweichlich. Und da wird man eben, wie ich sagte, ein wenig nachdenklich. Man wird sich seiner“, er holte tief Luft und hob die Stimme, „seiner Nichtigkeit, seiner Einsamkeit, seiner Unzulänglichkeit, seiner Abhängigkeit, seiner Ohnmacht und Leere bewusst!“
Er schaute mich erstaunt an. „Hast du das gehört? Wie brillant formuliert. Tja, man fragt sich, was man eigentlich mit seinem Leben gemacht hat. Denkt an alles, was man versäumt hat, was man hätte machen sollen und an all die Pippifaxprobleme, mit denen man so viele unwiederbringliche Stunden verplempert hat ... Tja ... Aber, aber ... That’s life, wie schon der alte Frank sagte, nicht wahr?“
„Du hast Angst vorm Fliegen“, und erst in der Sekunde, als ich es aussprach, wurde mir klar, dass ich Recht hatte. Und dass er deshalb den ganzen Morgen so anders gewesen war.
„Überhaupt nicht. Wirklich. Ich bin nur überzeugt davon, dass wir sterben werden. Das ist etwas ganz anderes. Du auch. Und das ist kein gutes Gefühl, weil ich ja schließlich – aber wart mal – in Wirklichkeit hat Lena dich auf die Reise gelockt. Nicht ich. Puh, das erleichtert mich. Nicht ich werde also Schuld an deinem Tod sein, sondern sie. Wunderbar. Prost!“
„Du, wir müssen jetzt zum Gate.“
„Ich brauch noch ein Bierchen.“
„Aber ...“
„Kein Aber!“ Er stand auf und holte sich noch ein Carlsberg Elefant.
„Du bist gleich voll“, sagte ich sauer, als er zurückkam.
„Ich? Von zwei Bierchen? Pah!“ Er trank sein Glas in einem Zug aus und schenkte nach. „Außerdem bin ich nie voll. Nie und nimmer. Merk dir das. Betrunken, das schon, aber das ist etwas ganz anderes. Merk dir das.“ Er machte schon wieder die Gitanesschachtel auf.
„Könntest du die vielleicht überspringen?“
„Was zum Teufel ist denn mit dir los?“, sagte er und zündete sie schnell mit einem gelben Einwegfeuerzeug an. „Hast du Reisefieber? Vielleicht Angst vorm Fliegen?“
„Du hast Angst.“
„Ja, ja, wenn du meinst.“
„Aber du bist doch schon geflogen?“
„Na klar. Aber was hat das damit zu tun?“
„Warst du da auch sicher, dass du sterben würdest?“
„Sicher.“
„Ja, aber ...“
„Aber das war ein Unterschied.“
„Was für ein Unterschied?“
„Damals flog ich nach Japan.“
„Und?“
Er zuckte mit den Schultern und schenkte Bier nach.
„Fliegen ist sicherer als Auto fahren“, sagte ich.
„Ha! Wer hat das behauptet? Irgend so ein Direktor von der SAS, den dein Vater kennt, was?“
„Ich weiß nicht mehr. Ich habe es irgendwo gelesen.“
„Ja, ja, bestimmt in so einem Revolverblatt. Wer das sagt, muss sturzbetrunken sein. Ha, sturz – hast du gehört. Genau ... Sturzflughafen müsste es heißen ...“
Er trank sein Glas aus, stand schnell auf, blieb dann stehen und stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch. „Verdammt!“
„Was ist denn?“
„Du hattest Recht. Die Elefanten.“
„Die Elefanten?“
„Mhmm ... Die dänischen Elefanten. ... Jesses. Das hätte ich nicht gedacht. Aber ich trinke ja sonst nie Bier, deswegen ...“
Er nahm seinen Trenchcoat vom Stuhl, machte einen Ausfallschritt, konnte ihn jedoch parieren, indem er sich auf den Stuhl am Nebentisch stützte. Er ließ vorsichtig los und testete gewissermaßen, wie sicher er stand, ehe er losging.
„Die Tasche“, sagte ich ruhig, stand auf und hängte meine Schultertasche um.
„Ja, verdammt! Oh ... das wär’s gewesen, was?“ Er drehte sich um und nahm die Aktentasche. „Los Apparillos auf dem Flugplatz stehen lassen. Kannst du dir vorstellen, was Lena sagen würde ... Was für ein Glück, dass du dabei bist ... In welche Richtung müssen wir?“
„Dorthin.“
„Vorwärts, mein bester Kamikaze-Passepartout, vorwärts!“
Am Gate saßen die British-Airways-Passagiere und warteten. Unruhig schaute ich sie an und erwartete fast, das zerknitterte Gesicht von Beppo, der Morchel, zu sehen.
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