Nach der Klärung der Motivation beginnt der eigentliche Weg. Wir setzen Schritt für Schritt den Fuß auf den Boden und jeder Schritt bedeutet, sich neu einzulassen. Jeder Schritt, jeder Atemzug, jede gegenwärtige Erfahrung ist eine Begegnung. Das Leben in seiner gegenwärtigen Gestalt tritt uns entgegen.
Das braucht Entschlossenheit und ein Dranbleiben, ein fortwährendes, aber ständig neues Sicheinlassen. In der buddhistischen Tradition wird dies „Rechtes Bemühen“ genannt. Normalerweise verbinden wir mit „Bemühen“ sofort auch „Anstrengung“. Im Kontext der Meditation ist damit aber etwas anderes gemeint: die Sorgfalt und die innere Disziplin, uns auf den gegenwärtigen Moment ganz einzulassen.
„Sich einlassen“ ist ein Akt des Empfangens, nicht des Tuns. Wir öffnen uns und nehmen eine Haltung des Empfänglichseins ein. „Sich anstrengen“ dagegen beinhaltet ein Wollen und eine Handlung. „Empfangen“ ist aber eine Nichthandlung. Trotzdem braucht es auch im Empfangen eine stetige Sorgfalt, die immer neue Aufmerksamkeit für den gegenwärtigen Moment.
Stellen wir uns vor, wir erhalten ein Geschenk. Braucht es eine Anstrengung dafür, ein Geschenk in Empfang zu nehmen? Natürlich nicht. Aber es bedeutet einen großen Unterschied in der Wirkung, ob wir es wirklich mit Sorgfalt und Liebe auspacken und uns davon berühren lassen oder ob wir es achtlos weglegen. Erst durch die Sorgfalt einer wachen Aufmerksamkeit offenbart sich uns das Geschenk des augenblicklichen Lebens.
Die Entschlossenheit, uns ganz auf den gegenwärtigen Moment einzulassen und dabei gleichzeitig die äußere Form des Sitzens oder Gehens zu wahren, gibt unserer Meditation eine enorme Stabilität. Wir halten die äußere Form ein, ganz gleich, was geschieht, und wir öffnen uns bedingungslos dem gegenwärtigen Moment, egal, ob er sich angenehm oder unangenehm, erwünscht oder unerwünscht anfühlt. Äußerlich wie innerlich ist dabei unsere Haltung bedingungslos und damit unerschütterlich wie ein Fels.
„Sitzen wie ein Berg“ wird das im Zen genannt. Wobei uns hier die Assoziation eines Berges oder Felsens auch in die falsche Richtung führen kann. Ein Berg oder ein Felsen scheint etwas Starres oder Schweres zu sein, etwas Unbewegliches. In der Meditation ist unsere innere Haltung jedoch alles andere als starr. Im Gegenteil, sie ist geprägt von totaler Offenheit, von Empfänglichkeit, von einem völligen Sicheinlassen auf den Moment. Ganz anders als ein Berg verkörpern wir in der Meditation vollkommene Durchlässigkeit. Wir sitzen also eher wie Wasser oder wie der weite, offene Himmel. Wasser ist vollkommene Hingabe und der Himmel ist empfangend und bedingungslos offen, weil er alles aufnehmen und beherbergen kann.
• Sprich zu Beginn der Meditation die Worte in dich hinein: „den Augenblick empfangen“ und beobachte, wie diese Haltung deine Meditation verändert.
• Stell dir den weiten offenen Himmel vor, nimm eine Gebärde dazu ein und erforsche dein Erleben dazu.
• Wie wäre es, in der Grundhaltung des „Himmels“ zu meditieren?
• Wie erfährst du „Bedingungslosigkeit“?
8 Absichtslos sein
Achtsames Gewahrsein ist eine sensitive, bewusste Form der Aufmerksamkeit. Wir sind uns des augenblicklichen Geschehens bewusst und gehen in einen unmittelbaren Kontakt. Das ist nur möglich, wenn wir absichtslos sind.
Alltägliche Wahrnehmung ist in der Regel zielgerichtet, absichtsvoll und automatisiert. Hier entsteht kaum eine sinnliche Erfahrung mit den Dingen. Im Alltag benutzen wir die Dinge. Daher genügt es, wenn unser Geist die Dinge anhand oberflächlicher Merkmale erkennt, um sie entsprechend zweckgebunden gebrauchen zu können.
Wenn wir eine Tasse Tee anfassen, um daraus zu trinken, widmen wir uns nicht bewusst den Empfindungen, die die Tasse in unserer Hand auslöst. Unser Körper greift wie nebenbei zur Tasse und führt sie zum Mund, ohne bewussten Kontakt zu der sinnlichen Erfahrung bei diesem Vorgang.
Ganz anders verhält es sich, wenn wir absichtslos eine Tasse Tee ergreifen und sie mit unseren Fingern erkunden. Erst jetzt spüren wir beim Ergreifen der Tasse ihre Form, die Beschaffenheit der Oberfläche und die angenehme Wärme, die in unsere Finger hinein ausstrahlt. Finger und Tasse werden zu einer lebendigen Erfahrung des intensiven Spürens.
Je mehr es uns gelingt, nicht nur unserer Absicht und dem Gelingen einer Handlung Aufmerksamkeit zu widmen, sondern alle Facetten des Tuns mit unseren Sinnen zu erfahren, desto leichter wird es, uns von den Dingen berühren zu lassen. Unsere Aufmerksamkeit verschiebt sich dabei immer mehr von einer funktionalen Wahrnehmung zu einer sensitiven, lauschenden Achtsamkeit. Erst jetzt offenbaren sich uns die Dinge tiefer. Uns erschließt sich die wertfreie Natürlichkeit allen Seins. Begegnen wir den Dingen offen und sensitiv, tauchen wir in eine Unmittelbarkeit ein, die sinnlich und erfüllend zugleich ist.
Die Haltung der Absichtslosigkeit ist ein zentraler Schlüssel zu unmittelbarem Gegenwärtigsein. Sie ist gleichzeitig im Einklang mit unserer Grundrealität von Gewahrsein. Das Gewahrsein ist ungerichtet, vollkommen absichtslos. Alles darf im Gewahrsein in der ureigenen Weise erscheinen und wieder vergehen. Wollen wir das Gewahrsein immer mehr verwirklichen und daraus leben, ist die Haltung der Absichtslosigkeit eine Grundvoraussetzung.
Auch die äußere Form der Praxis verkörpert aus diesem Grund die Absichtslosigkeit. Wir gehen meditativ, um zu gehen, und nicht, um irgendwo anzukommen. Wir sitzen, um zu sitzen, und nicht, um am Schreibtisch etwas zu erledigen. Gehen, um zu gehen, sitzen, um zu sitzen, atmen, um zu atmen, spüren, um zu spüren … Können wir den Geschmack von Freiheit darin erkennen, der in dieser unbedingten Natürlichkeit liegt?
In der Absichtslosigkeit kann alles sein. Es darf alles geschehen, so wie es natürlicherweise geschehen will. Unsere Wahrnehmung ist frei, die Dinge zu sehen, wie sie tatsächlich sind – ohne Verzerrung durch unsere Vorstellungen, Ziele und Vorlieben. Erst so können wir eintauchen in ein unbedingtes, freies Gewahrsein.
• Wie sind dein Erleben und deine Aufmerksamkeit, wenn du gehst, um irgendwo hinzukommen, oder wenn du gehst, um zu gehen?
• Wie erfährst du ein Glas, wenn du trinkst, und wie, wenn du es absichtslos mit sensitiver, lauschender Wahrnehmung erkundest?
• Erinnere dich zu Beginn der Meditation an die unbedingte Absichtslosigkeit des Gewahrseins.
9 Unmittelbar sein
Gegenwärtigsein bedeutet, unmittelbar mit den Dingen in Kontakt zu sein. Unmittelbar atmen, unmittelbar die Empfindungen im Körper spüren und unmittelbar die Geräusche im Raum hören. Was verstehen wir konkret unter Unmittelbarkeit? Das Wesen der Unmittelbarkeit besteht darin, dass es zwischen Subjekt und Objekt keinen Abstand, keine Filter und letztlich auch keine Trennung gibt. Es ist nichts dazwischen.
In der Alltagswahrnehmung dagegen gibt es eine Menge Filter und Assoziationsketten in unserem Geist, die verhindern, dass eine direkte Berührung mit dem augenblicklichen Geschehen zustande kommt. Wenn wir zum Beispiel eine Vogelstimme hören, taucht in unserem Geist sofort eine Assoziation von einem Vogel auf. Oder wenn wir in ein vertrautes Gesicht sehen, werden bei der Betrachtung des Gesichtes sogleich bekannte Gefühle und Gedanken hinzugefügt. Je vertrauter uns ein Gegenstand oder eine Person ist, desto mehr automatische Verknüpfungen gibt es in unserem Geist und desto schwieriger ist es, wieder ganz neu und unverstellt wahrzunehmen.
Unmittelbarkeit ist aber ein unverstellter, unvoreingenommener Blick auf die Dinge. Es bedeutet, die vertrauten Bilder und Erinnerungen in unserem Kopf für einen Augenblick ganz beiseite zustellen und uns ganz frisch, mit neuen Augen, einzulassen und in Kontakt zu gehen. Kontakt wiederum bedeutet ein bewusstes „in Verbindung sein“.
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