Den Norden feststellen und markieren! Zum ersten Mal sah Rodrigo nun diese alte Technik zur Ermittlung der Himmelsrichtung, die man den „Segensgruß des Piloten“ nannte. Er bestand darin, dass man den Arm erhob und die flache Hand zwischen den Augen in die Richtung des Polarsterns brachte, darauf die Hand in ihrer flachausgestreckten Haltung auf die Kompassrose herabsenkte und so feststellte, ob die Nadel von der wahren Nordrichtung abwich.
Bei dieser Probe nun stellten La Cosa und Peralonso Niño übereinstimmend fest, dass die Nadeln sogar um einen vollen Punkt abwichen. Verständnislose Gesichter bei den beiden Piloten und bei allen übrigen Männern, die nähergerückt waren. Nur der Admiral lächelte mild und selbstsicher. Sein zufriedener Blick in den Sternenhimmel machte die anderen noch ratloser. Zum ersten Mal erlebte Rodrigo Juan de La Cosa gereizt und aufgebracht: „Die Grundgesetze der Natur gelten hier nicht mehr“, hielt der Schiffseigner dem Admiral mit sich überschlagender Stimme vor. „Wir sind in eine Welt eingedrungen, in der unbekannte unheimliche Einflüsse regieren und der Kompass kein Führer mehr zu sein vermag. Führt uns zurück Colón, bevor wir alle verloren sind!“
Gestandene Männer, Seeleute mit der Erfahrung von tausenden von Seemeilen auf allen Meeren der bekannten Welt, unerschrockene Haudegen, prahlerische Aufschneider – sie alle schrumpften zu abergläubischen Zwergen angesichts einer zitternden Kompassnadel, die in die falsche Richtung zeigte. Nicht das Gerät löste die Bestürzung aus, das war nur ein Auslöser. Vielmehr sank den Männern der Mut angesichts der unbekannten Weite, in die sie Colón von Tag zu Tag tiefer hineinführte. Diese kleinmütige Furcht suchte sich ihr Ventil. Heute fand sie es in einem verwirrten Kompass, morgen würde es vielleicht ein geheimnisvolles Geräusch unter den Planken sein, übermorgen die Farbe des Meeres.
Hinter de La Cosa versammelten sich all die anderen: Niño, Escobedo und die ganze Mannschaft. In ihren finsteren Gesichtern stand Furcht. Sie suchten nach einer Begründung zur Umkehr. So weit durfte Colón es nicht kommen lassen, er musste jetzt jedes Wort abwägen. Es galt für ihn und den Erfolg seiner Mission, diesen ersten wirklich kritischen Moment zu überstehen. Seine wasserblauen Augen blitzten fröhlich. Er schien sich überhaupt keine Sorgen zu machen. Theatralisch zeigte er zum Polarstern hinauf: „Seht ihr alle den Polarstern da oben? Jeder von uns hat gelernt, dass die Magnetnadel sich an diesem Stern orientiert, dass dieser Stern also exakt unseren Norden bezeichnet. Ich bin aber zu dem Ergebnis gekommen, dass nicht unser Norden plötzlich verschwunden ist, oder die Nadeln in die falsche Richtung zeigen, sondern dass dieser Stern sich bewegt.“
Ein Raunen und Ausrufe des Erstaunens gingen durch die Reihen. Die meisten verstanden allerdings nicht, was diese Einschätzung zu bedeuten hatte. Aber jene, die es erahnten, wie der Kapitän oder der Steuermann, blickten ungläubig. Ihr nautisches Grundwissen hing von bestimmten Gewissheiten ab, die sie nicht ohne Weiteres von einem Tag auf den anderen aufzugeben bereit waren. Alle Mann blickten zum Himmel, als könnten sie sofort irgendwelche Bewegungen des Sterns wahrnehmen.
„Die Kompassnadel neigt sich Richtung Norden weiterhin zum richtigen Punkt“, führte Colón weiter aus. „Aber dieser Punkt unterscheidet sich von dem, welcher durch den Polarstern angegeben wird.“
Juan de La Cosa schüttelte zweifelnd den Kopf. Immerhin galt er als erfahrenster und kundigster Seemann. „Colón, Admiral, wie soll ich glauben, was Ihr da sagt, wo doch vor uns noch nie ein Pilot diese Beobachtung gemacht hat?“
Mit geradezu beängstigender Ruhe und Selbstsicherheit erwiderte Colón: „Wie sollte er auch? In diese Breiten, in die wir uns vorgewagt haben, hat bisher auch noch nie ein Seefahrer den Mut gehabt vorzudringen. Die Bewegung des Polarsterns am Himmelsbogen ist vielleicht nur aus unserer Warte so exakt zu ermitteln. Es ist eine Frage des Winkels, in dem man zu den Sternen steht. Versteht Ihr?“
La Cosa schaute zweifelnd zu Peralonso Niño. Außer diesen beiden und vielleicht noch dem einen oder anderen älteren Matrosen wusste niemand mit solchen Erläuterungen etwas anzufangen. Bewegungen der Himmelskörper? Polarstern? Neigungswinkel?
Letztlich schaffte es die ungeheure Selbstsicherheit des Admirals, die Gemüter halbwegs zu beruhigen. Alle spürten: So überzeugt konnte nur jemand sein, der sich seiner Sache sicher war.
„Wenn Ihr Recht habt, Euer Gnaden“, überlegte La Cosa, „dann müsste sich die Abweichung ja beständig ändern. Oder bewegt sich Eurer Meinung nach der Polarstern ruckartig und verharrt dann wieder in bestimmten Positionen für längere Zeit?“
Colón nickte: „Ihr vermutet richtig, Kapitän. Heute Morgen hatten wir einen halben Strich Abweichung. Jetzt haben wir soeben einen vollen Punkt Abweichung nach Nordwest festgestellt. Ich glaube, dass die Abweichung morgen früh nochmal eine andere sein wird. Und ich glaube, dass auch der Tag kommen wird, wo Polarstern und Nadeln wieder übereinstimmen werden. Mir scheint, dass unser Stern um jenen Punkt herum, den wir als Norden bezeichnen, eine Kreisbewegung beschreibt.“
Die Erklärung wirkte auf jeden Fall auf die Mannschaft und die Offiziersleute beruhigend, so sachlich und fachmännisch, wie der Admiral sie vortrug. Ob sie allerdings jedermann sogleich einleuchtete oder nicht, oder ob sie überhaupt verstanden wurde, blieb offen. Bei den meisten Matrosen kam lediglich an, dass Colón eine Erklärung präsentiert hatte, welche die erfahrenen Seeleute besänftigte. Mit einer Mischung aus Intuition und wagemutiger Spekulation, gepaart mit seinem Fachwissen und der Grandezza des Visionärs, kam Colón der Wahrheit auf die Spur. Er hatte wohl eher aus dem Gefühl heraus und weniger aus konkreter Berechnung die richtige Vermutung angestellt und als seine feste Überzeugung weitergegeben. Tatsächlich entdeckte er die tägliche Umdrehung der Polaris, beziehungsweise zog sie als Erklärung heran, obwohl er wohl nicht davon wusste, dass darüber an den Universitäten in Spanien, Italien oder Frankreich die Gelehrten bereits seit Jahren kontrovers diskutierten.
Die murrenden Stimmen wurden leiser, aber sie verstummten deshalb nicht.
„Bin gespannt, was er uns morgen erzählt, wenn vielleicht plötzlich der Mond verschwindet oder das Meer anfängt zu kochen!“, lästerte inmitten einer Gruppe erregter Männer der stets an Unfrieden interessierte Rodrigo de Escobedo. Der dürre Notar fuchtelte wild mit den Armen: „Sollen wir alles glauben, was dieser Wahnsinnige uns erzählt? Ich war an der Universität in Salamanca. Dort habe ich niemals von den Astronomen solchen Unsinn gehört, dass der Polarstern sich bewegen soll. Und das sind zuverlässige Gelehrte, die Besten, die es gibt. Wenn der Name Diego de Deza euch etwas sagt. Oder schon einmal vom berühmten Talavera gehört?“
Das war natürlich nicht der Fall, Escobedo hätte jeden beliebigen Namen erfinden können. Entscheidend war, dass er jenes Unbehagen schürte, das sich in der Mannschaft breitgemacht hatte und schon kurz nach der Abfahrt nicht mehr weichen wollte.
„Was glaubst du, Jakob?“, fragte Rodrigo seinen Beschützer und Freund. Die beiden saßen etwas abseits an der Reling, den Rücken angelehnt, die Knie angewinkelt, ein inzwischen gewohntes Bild. Jakob deutete zum Sternenhimmel: „Dort oben steht der Nordstern. Schau ihn dir doch an. Bewegt er sich etwa? Mir kann der Alte nichts erzählen. Irgendwas ist los mit unserem Kompass, das ist es.“
Rodrigo, der, ungeachtet des Vorfalls auf Gomera, oder gerade auch deswegen, für Admiral Christóbal Colón unverholene Bewunderung hegte, andererseits inzwischen aber auch großes Vertrauen zu Jakob gefasst hatte, wollte nicht so schnell urteilen: „Aber es könnte doch sein, dass es stimmt, was der Admiral erklärt hat?“
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