Da zischelte aus dem Dunkel des hinteren Laderaums Escobedos Stimme: „Jakob, lass den Kleinen in Ruhe, der kommt wegen mir.“
Der Leichtmatrose Jakob verstellte Rodrigo jedoch den Weg zu Escobedo: „Woher weißt du, dass der Junge zu dir will? Vielleicht gefalle ich ihm ja viel besser.“
Das klappernde Lachen Escobedos erfüllte die Dunkelheit. „Misch dich nicht ein, Schwuchtel, verschwinde!“
Rodrigo nahm den Notar nur als schemenhaften Schatten im Halbdunkel wahr. Er verströmte sogar im Halbdunkel eine unheimliche, besitzergreifende Präsenz.
„Er ist noch frei“, beharrte Jakob und trat einen Schritt auf Rodrigo zu. Dieser erschrocken auf das lange, halbaufgerichtete Ding zwischen Jakobs Beinen. „Möchtest du mich anfassen?“, fragte er Rodrigo. „Hier!“ Er hielt sein Geschlechtsteil und streckte es Rodrigo hin.
Rodrigos hochsensible Überlebensinstinkte meldeten sich. Der kleine Körper geriet in höchste Alarmbereitschaft. Da umfassten ihn von hinten nackte Männerarme, jemand warf sich auf ihn und drückte ihn mit seinem Körpergewicht auf die Planken. Escobedo! Der rasselnde, faulige Atem des Notars lag dicht an Rodrigos Ohr. „Lass dich nicht mit Jakob ein. Der Einzige, der dir hier an Bord helfen kann, das bin ich. Sei nett und ich bin es auch.“ Escobedo drückte sich fest auf Rodrigo und vollführte ruckartige Bewegungen, den Jungen fest in seinem Griff eingeklammert. Rodrigo fühlte sich an die Eber im Schweinestall der Pinzons erinnert, wenn sie die Säue besprangen. Offenbar trug auch Escobedo keine Kleider. Sein hartes Ding schabte an Rodrigos Schenkel. Escobedos feuchter Mund begann an Rodrigos Ohr zu knabbern, mit der Zunge fuhr er ihm über die Backe an den Hals.
Rodrigo kämpfte, er zappelte und wehrte sich, und obwohl Escobedo über erstaunliche Körperkräfte verfügte, gelang es ihm, sich vom Boden wegzustemmen und herumzudrehen. Der schnaufende, nackte Escobedo saß noch immer auf ihm. Da gelang es Rodrigo wieselflink, sich aus dem Griff des Notars freizumachen. In schnellen Sätzen sprang er davon und kletterte aus dem Laderaum.
Escobedo blieb zornesrot am Boden sitzend zurück. Eine knochige Jammergestalt, die dünnen Beine von sich gestreckt, ein rotglühendes Etwas zwischen den Schenkeln. Er hielt sich den bei der Aktion verrenkten Arm. „Das wird er büßen!“, knurrte er. „Diese kleine dreckige Ratte. Dieser elende ...“ Er verschluckte den Rest seiner Beschimpfung und rappelte sich auf. „Ich werd ihm den Hintern aufreißen. Betteln und zittern wird der Kerl noch vor mir.“
Jakob, immer noch nackt, setzte sich neben Escobedo auf einen der Mehlsäcke. „War wohl nichts, großer Verführer. Musst dir halt weiterhin den kleinen Martin mit mir teilen.“
Am nächsten Morgen kam erneut Signal von der Pinta. Schon wieder ein Defekt an dem notdürftig mit Tauen fixierten Steuerruder. Es erwies sich als unmöglich, den Schaden auf offener See in Ordnung zu bringen, zumal das Wetter sich verschlechterte und das Schiff wegzutreiben drohte. So beschlossen die Kapitäne, mit allen drei Schiffen den Hafen von Las Palmas auf Gran Canaria anzusteuern. Dort gab es eine Werft, von der es hieß, sie sei so gut ausgestattet, dass dort Eisen geschmiedet und jeder Schaden am Schiff ausgebessert werden konnte. Die Gallega und die Niña segelten voraus. Die Pinta sollte nachkommen, so gut es ihr mit den behelfsmäßigen Reparaturen möglich war.
So trennte sich erstmals die Flotte und Rodrigo beobachtete von Bord der Gallega aus, wie die hilflos auf hohen Wellen tanzende Pinta schnell zurückblieb. Mit ihr verschwand auch der letzte dünne Strich, der am Horizont noch von Lanzarote zu sehen gewesen war.
IV. Das Kloster La Rabida
Die Morgensonne brannte bereits drückend vom andalusischen Hochland herunter in die Ebene von Palos und Huelva. Ihre Strahlen ließen den trägen Rio Tinto anmutig glitzern. Der kleine Miguel Sanchez, der Bruder Rodrigos, saß noch immer in der Nähe des Hafens hinter einem Bretterschuppen und wagte sich nicht aus seinemVersteck hervor. Besser, den ganzen Tag hier in diesem Verschlag auszuharren, als sich durch die Gassen von Palos zur Hütte der Mutter zurückzuschleichen. Nein, überhaupt nie mehr wollte er dorthin zurück. Er wollte frei sein, keine Angst mehr haben müssen, er wollte die Schreie, den ständigen Krach nicht mehr hören, die täglichen Prügel nicht mehr erdulden.
Er war zehn Jahre alt. Ein eingeschüchtertes, ahnungsloses Kind. Doch er war im Begriff, die Flucht vor der eigenen Mutter und ihrem dauerbesoffenen Peiniger zu ergreifen. Miguel beobachtete, wie der Schatten der Hauswand im Laufe des Vormittags immer kürzer wurde, hielt seinen Kupferreal, den ihm die mildtätigen Damen im Hafen zugeworfen hatten, zwischen den Fingern, bestaunte ihn immer wieder aufs Neue und von allen Seiten und vertrieb sich ansonsten die Zeit damit, zwei in seiner Nähe streunenden Katzen bei ihren spielerischen Ringkämpfen zuzuschauen. Sie wälzten sich im Staub und im dürren Unkraut, sprangen übereinander, fauchten, verbissen sich ineinander, machten Buckel, auf denen die Haare abstanden wie Kaktusdornen, und bauschten ihre Schwänze zu Palmwedelgröße auf. Wenn eine die Oberhand gewann, nahm Miguel ein Steinchen und warf es zwischen die Kämpfenden. So hielt er den Zweikampf ausgeglichen.
Hunger und Durst trieben ihn schließlich aus seinem nunmehr schattenfreien Versteck. Weiter oben im Dorf gab es einen Brunnen. Jeder konnte sich daraus bedienen: Die Frauen zogen ihre täglichen Rationen, die Fuhrleute tränkten dort Ochsen oder Esel. Aber die unbestimmte Furcht vor dem, was ihm möglicherweise blühte, wenn die Mutter ihn dort erwischte, oder gar der alte Säufer, falls er nicht nach Rodrigos Messerstich abgekratzt war, hielt ihn davon ab, am Brunnen seinen Durst zu löschen.
Er schlich sich die schmale Gasse hinauf zur Georgskirche und nahm von dort den Weg hinaus aus dem Ort. Richtung La Rabida führte ein staubiger Karrenweg am Rio Tinto entlang; er wurde an zwei Stellen von kleinen Bächen gekreuzt. Es handelte sich um den Fuhrweg zum Kloster La Rabida hinaus, das etwa eine Legua von Palos entfernt lag. Entlang des Weges erstreckte sich ödes Marschland, sumpfige, von Stechmücken bevölkerte Wiesen. Sie reichten bis hinunter zum Rio Tinto. Auf der anderen Seite des Flusses leuchteten die Lehmziegel der Dächer von Huelva, der wichtigsten Stadt der Grafschaft Niebla. Miguel befand sich in vertrautem Gelände, er kannte sich aus.
Die Landschaft lag nach dem langen Sommer ausgedörrt und trostlos vor ihm. In der Ferne flimmerten die weißen Mauern von La Rabida. In einer etwas entfernten, von groben Trockenmauern eingefassten Mulde grasten ein paar junge, schwarze Stiere unter ramponierten Krüppeleichen. Es roch nach verdorrtem Gras und Straßenstaub.
Hinter Miguel näherte sich ein Eselskarren. Er kam schnell näher, denn Miguel trödelte und zauderte, blieb häufig stehen, stolperte dann wieder ein paar Schritte, blieb wieder stehen. Ein struppiges, kräftiges Maultier zog den niedrigen, einachsigen Lastkarren, die Pritsche voll gestopft mit von Tüchern abgedeckten Körben, mit großen Töpfen, groben Säcken, Kürbiskalebassen und ledernen Beuteln. Hinter dem Karren schlurfte ein alter Mann, barfuß und leicht gebückt. Es sah aus, als schlafe er im Gehen. Den zerschlissenen Strohhut hatte er tief in die Stirn gezogen, in seiner rechten Armbeuge klemmte eine mit Schnur verlängerte Rute. Das Ende der Schnur hing bis in den Straßenstaub herab und schleifte zwei Mannslängen hinter dem Alten her. Miguel erschrak, als der schwer schnaubende Maulesel plötzlich an ihm vorbeitrabte. Erst jetzt nahm er das Geräusch der im Sand knirschenden großen Holzräder, das Quietschen der Deichsel und das Rumpeln der Ladung auf der hölzernen Wagenpritsche wahr. Hatte er geträumt? Wie hatte ihm das Näherkommen des Karrens entgehen können? Ängstlich duckte er sich am Wegesrand und ging in die Hocke, in der Hoffnung, vielleicht nicht wahrgenommen zu werden. Den alten Mann, der scheinbar schlafend hinter der Karre herzottelte, hatte er bereits erspäht. Er kannte ihn: Don Burro, Herr Esel! So riefen ihn alle, wegen seiner Esel, die er auf einer kleinen Landwirtschaft außerhalb Palos züchtete. Er verlieh die Tiere, verkaufte sie, schlachtete sie oder richtete sie als Zug- und Lasttiere ab. Zwar sah Don Burro aus wie ein heruntergekommener Landstreicher und Bettler, aber jeder in Palos wusste, dass der Alte wohlhabend war, dazu geizig und misstrauisch. Er besaß keine Familie, keine Frau, keine Kinder. Manchmal kam er in die Stadt, betrank sich mit Augenmaß in der Spelunke „Zur Schildkröte“ drunten im Hafen und beschimpfte die Hidalgos und die Mesta, die Zunft der Schafzüchter, mit denen er in Dauerfehde lag. Dann suchte er sich eine der Dorfnutten. Früher, als sie noch ansehnlich und rank war, war das oft auch Miguels Mutter gewesen. Dann tauschte der alte Eselzüchter ein Huhn, einen Sack voller Gemüse, ein kleines Fässchen Wein oder andere Naturalien gegen das zweifelhafte Vergnügen, unter einen Rock zu gelangen, der vor ihm schon zahlreiche andere Besucher hat kommen und gehen sehen. Jedenfalls kannte Miguel den alten Don Burro, nicht zuletzt durch die Anekdoten, die über den Alten im Ort die Runde machten.
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