„Es ist, wie ich es dir sage: Die Kerle packen dich und vögeln dich in den Arsch. Das machen die hier so miteinander. Wenn du nicht mitmachen willst, dann besorge dir ein Messer, oder noch besser, einen Beschützer, an den die anderen sich nicht rantrauen.“
Pablo ließ Rodrigo noch eine Weile über das Gesagte nachdenken, dann hakte er nochmals ein: „Was denkst du, was gerade eben drunten im Laderaum vor sich geht. Da nehmen sie sich den Martin vor. Das weiß jeder, außer dem Admiral.“
Pablo erhob sich: „Ich hab’s dir jedenfalls gesagt. Pass auf!“
Rodrigo blieb nachdenklich zurück. Er knetete die kleine, zusammengebundene Haarlocke, die er, fest an den Stoff geknüpft, immer in der Hose bei sich trug. Die Haarlocke Isabellas. „Sie vögeln dich in den Arsch!“ Er wusste sehr wohl, von was die Rede war. Zu Hause hatte er das oft genug mit angesehen.
Ein Versuch Rodrigos, ein paar Tage später mit dem Schiffsjungen Martin ins Gespräch zu kommen, scheiterte daran, dass der Kleine verschüchtert davonhuschte. Außerdem stand plötzlich Escobedo dahinter, als hätte er darauf gelauert. Rodrigo erschrak, als er die grelle Stimme des Notars hörte. Er hatte nicht bemerkt, dass Escobedo nähergekommen war.
„Der Martin spricht nicht mit jedem“, sagte Escobedo schmalzig. Und nach einer kurzen Pause: „Schau mal da hinüber, Kleiner, das bedeutet für dich Abschied von der Santa Maria.“
Rodrigo wandte den Kopf. Eine sanfte Küstenlinie tauchte am Horizont auf.
„Das ist die Insel Lanzarote“, sagte Escobedo. „Die tote Kanareninsel. Da wächst nichts. Sei froh, dass wir dich nicht dort aussetzen. Aber wenn wir in Gran Canaria an Land gehen, wirst du abgesetzt.“ Dann legte er Rodrigo, wie schon einmal in Colóns Kajüte, mit einer herrischen und besitzergreifenden Geste seine knochige Hand auf die Schulter. Rodrigo versteifte sich und senkte irritiert den Blick.
„Ich könnte dafür sorgen, dass du an Bord bleiben kannst“, fügte er schmeichelnd hinzu. Es klang, als hätte eine Krähe geschworen, der anderen das Aas nicht wegzufressen. Escobedo kam ganz nahe mit seinem Kopf an Rodrigos Gesicht heran und flüsterte mit fauligem Atem: „Willst du an Bord bleiben, Kleiner? Willst du das schöne Leben hier genießen, unsere große Fahrt mitmachen?“
So nahe rückte Escobedo heran, dass Rodrigo den Kopf wegdrehen musste, um dem üblen Mundgeruch des königlichen Notars auszuweichen. Aber die verheißungsvollen Versprechen? Rodrigo nickte zaghaft und Escobedos Hand begann, sich von Rodrigos Schulter in seinen Nacken zu bewegen, den Hals hinauf in den Haaransatz.
Rodrigo spürte Widerwillen aufsteigen. Er wollte sich losreißen. „La Pinta, la Pinta!“, rief plötzlich einer der Seeleute und zeigte hinüber auf das Schwesterschiff. Von dort wurde ein Kanonenschuss abgefeuert. Die Pinta, das Schiff von Martin Alonso Pinzon, lag leicht steuerbord eine halbe Seemeile vor der Gallega. Die Karavelle schaukelte seltsam unruhig und machte kaum Fahrt, die Segel wurden eingeholt. Alle Augen an Bord der Gallega verfolgten das Geschehen. Aus seiner Kajüte kam Admiral Christóbal Colón gestürmt, im Schlepp den krummbeinigen Diego de Harana. Die Kapitäne hatten das Signal eines Kanonenschusses für ganz spezielle Fälle vereinbart: entweder, wenn im Westen nach der Überquerung des Ozeans Land in Sicht kommen sollte oder bei Havarie.
Der erste Steuermann Juan de La Cosa gab Befehl beizudrehen. Die Männer sprangen an ihre Plätze und holten die Segel ein. Um den Admiral scharten sich auf dem Achterkastell aufgeregt die Offiziere, Juan de La Cosa, der zweite Steuermann, Peralonso Niño, Harana, auch Gutierrez und andere. Auch Escobedo musste dazu. Er gab Rodrigo einen freundschaftlichen Klaps auf die Wange: „Überleg es dir. Wenn du weiter an Bord bleiben willst, dann komm heut Nacht in den Laderaum, mittschiffs bei den Mehlsäcken.“
Mit dieser Aufforderung ließ er den Jungen stehen und entfernte sich Richtung Achterkastell. Admiralspage Pedro de Tereros schlich wie zufällig vorbei, grinste gehässig und flüsterte im Vorübergehen: „Mach dich schön dafür, wie es die Nutten von Salamanca machen, wenn sie hohe Herren empfangen. Süß wird sie sein, die Nacht im Laderaum ...“
Rodrigo fand keine Zeit, über diese Andeutungen nachzudenken, denn um ihn herum strömte die Mannschaft auf Deck zusammen. Alle schauten neugierig hinüber zur Pinta, wo aus den Fumos, den kupfernen Becken am Heck, in kurzen Abständen Rauchsignale aufstiegen. Sie kündigten Schwierigkeiten an. Welcher Art, das blieb noch unklar. Unter den Matrosen machten verschiedene Interpretationen und Spekulationen die Runde; die Kundigen wollten zweifelsfrei das Signal „nicht manövrierfähig“ herausgelesen haben.
„Sabotage, glaubt mir!“, verkündete einer der jüngeren Matrosen, Jacomo Rico, ein besonders schwatzhafter Kerl. Er stammte aus Venedig und war außer dem Admiral der einzige Nicht-Spanier an Bord. Das machte ihn automatisch zum Außenseiter, was er durch übermäßige Geschwätzigkeit und Anbiederung nach allen Seiten auszugleichen suchte.
Später stellte sich heraus: Das Steuerruder der Pinta war aus seiner Halterung herausgesprungen, warum auch immer.
Admiral Colón hatte den Eigner der Pinta, Christóbal Quinterro in Verdacht, diese Havarie selbst herbeigeführt zu haben, um auf den Kanaren bereits die Fahrt abbrechen zu können. Es herrschte unter den Mannschaften und Offizieren nämlich durchaus die Auffassung, ein Verbleib auf den kanarischen Inseln könne für alle die beste Lösung sein. Viele sahen die Weiterfahrt über den unbekannten Atlantik inzwischen doch eher als ein Himmelfahrtskommando an, eine Spinnerei des Don Fantastico, die man besser vermeiden oder hintertreiben sollte, und sei es mit einer nachgeholfenen Panne.
Mit solchen Diskussionen und Spekulationen vertrieb sich die Mannschaft den Nachmittag und den Abend. Die kleine Flotte blieb zusammen, immer noch in Sichtweite der Insel Lanzarote, ohne weitere Fahrt zu machen.
Auf der Pinta arbeiteten die Männer hektisch, die Kommandos Pinzons und seiner Offiziere hallten über das Meer bis zu den beiden anderen Schiffen. Die Matrosen der Gallega und der Pinta schauten neugierig den Reparaturarbeiten zu. Manche beteiligten sich mit aufmunternden Zurufen übers Meer – mehr Spott und Lästern als ernsthafte Ratschläge.
Rodrigo zog sich in seinen Winkel an der Back zurück. Der drohende Schatten von Lanzarote am Horizont erinnerte ihn daran, dass für ihn die Fahrt hier zu Ende sein würde. Escobedo hatte gesagt: „Ich könnte vielleicht dafür sorgen, dass du an Bord bleiben kannst.“
Dieses vage Versprechen beschäftigte Rodrigo. Eine Verheißung, die erst nur unbestimmt pochte, dann in seinem Innern wuchs und wucherte und ihn schließlich so erfüllte, dass er entschlossen aufsprang. Was sollte schon passieren im Laderaum? Die unbestimmten Andeutungen Pablos, die süffisanten Bemerkungen des Admiralspagen, das zutrauliche Werben Escobedos, der seltsam verstockte kleine Baske Martin de Urtubia. Und wenn man sich mit ihm vergnügte, – schlimmer als die Prügel des Alten zu Hause konnte das auch nicht sein. Also, gewagt! So kletterte Rodrigo entschlossen durch die Hauptluke in den Laderaum hinunter, verfolgt von den neugierigen Blicken einiger umstehender Matrosen.
Im Zwielicht des Laderaums trat ihm ein Schatten entgegen. „Hey Kleiner!“
Die Stimme gehörte Jakob, einem der ungelernten Leichtmatrosen. Im Zwielicht unter Deck erkannte Rodrigo, dass Jakob nackt vor ihm stand.
Rodrigo blieb stehen. Dieser Jakob, ein schmaler, feingliedriger junger Mann kam mit gezierten, fast weibisch anmutenden Bewegungen hinter den aufgestapelten Säcken hervor und baute sich vor Rodrigo auf. Rodrigo musterte ihn abschätzend. Jakob war von mittlerer Statur, gut gebaut, schlank und sehnig. Er besaß einen von der harten Arbeit an Bord gut trainierten Körper. Nur sein mädchenhaft ebenmäßiges und weiches Gesicht grinste etwas unbeholfen.
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