»Hätten wir ihn nicht bemerkt?«, fragte Carter. Seine Hand lag flach auf der Flanke des Tieres.
»Es war noch dunkel.«
»Und wir sind gerannt.«
»Wir hatten es eilig.«
Einige Augenblicke standen wir einfach da, und meine Hand schloss sich fest um die Fläschchen mit Weihöl und Messwein. Eben waren wir noch wegen Newman erschüttert gewesen, und jetzt standen wir wie Sheriffs auf Streife neben einem toten Hund, als ob der etwas ganz Ungewöhnliches und Unheimliches wäre.
»Er könnte …«, setzte Carter an, »ich könnte …« Er legte seine Hand auf Newmans Hemd und zerrte daran herum. »Vielleicht hatte ich unrecht mit dem, was ich vorhin im Fluss sah.«
»Nein«, sagte ich. »Nein.«
»Vielleicht war es keine Leiche, die sich in dem Baum verfangen hatte, vielleicht war es nur ein Schatten – bestimmt werden die Leute sagen, dass es nur ein Schatten war.«
»Und das Hemd?«, fragte ich. »Ist das auch nur ein Schatten?«
»Aber Sie haben es doch selbst gesagt – es war noch dunkel. Wenn wir einen toten Hund übersehen haben, der wirklich da war, vielleicht habe ich dann einen Mann gesehen, der nicht da war?«
Ich wollte Carter nicht durcheinanderbringen, aber ich musste doch auf die Tatsachen hinweisen. »Herry, am Samstagmorgen wurde ein Mann gesehen, der den Fluss hinabtrieb«, sagte ich so freundlich und klar, wie ich konnte. »Robert Tunley bekam ihn kurz zu Gesicht und sagte, es hätte durchaus Newman sein können. Seitdem wurde Newman nicht mehr gesehen, und er ist der Einzige, der im Dorf vermisst wird. Es ist unwahrscheinlich, dass ein Fremder ertrunken ist. Wir haben weiß Gott nicht viele Besucher hier.«
Es gab keine Fremden, weil der Fluss uns von der Welt abschnitt. Aber dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um über unsere eingestürzte Brücke zu jammern, so sehr es mich auch dazu drängte.
Ich legte ihm meine Hand auf die Schulter. »Und jetzt wird flussabwärts eine Leiche angespült …«
»Nicht weit genug flussabwärts«, widersprach Carter. Er stieß mit dem Fuß den Bauch des Hundes an und schob meine Hand fort. »Sie haben doch gesehen, wie schnell das Wasser fließt – in drei Tagen wäre eine Leiche viel weiter fortgeschwemmt worden.«
»Und du hast gesehen, wie lang die Strecke ist, die sie zurücklegen muss, durch die eine Flussbiegung bei Odd Mill, die andere bei Burn Wood. Eine Leiche kann dort überall unterwegs stecken bleiben, sich in abgefallenen Ästen verfangen, an einer Böschung auflaufen …«
Carter wandte sich mir zu. »Die Leute werden mir nicht glauben, wenn ich sage, dass ich die Leiche von Tom Newman gesehen habe. Sie werden sich über mich lustig machen.«
»Du hast sein Hemd gefunden«, sagte ich. »Hier ist es. Was sollen die Leute dagegen sagen?«
Wir standen wortlos in der Kälte. Seine Schultern hingen so tief herab, dass ich ihn am liebsten aufgerichtet und in die Arme genommen hätte. Lass die Leute doch reden, wollte ich sagen. Du weißt, was du gesehen hast – andere zählen nicht. Ich hielt die Flaschen umklammert, der Wind fuhr in den raschelnden Birkenhain. Auf einmal überkam mich eine große Traurigkeit, und ich fragte mich, woher die Bäume die Zuversicht zum Weiterwachsen nahmen, wenn Wind, Regen und Schnee sie den ganzen Winter auf diese Weise schikanierten.
In wortlosem Einverständnis setzten Carter und ich uns in Bewegung, angelockt vielleicht durch den Geruch nach Bratfett, der uns schwach erreichte. Er drang nur einmal und auch nur einen Moment lang zu uns, sodass man ihn fast für Einbildung halten konnte, aber plötzlich dachte ich nur noch an Eier und an Brot, das in das warme Speckfett vom Vortag getunkt wird. So flüchtig der Duft auch war, ich entwickelte einen gewaltigen Appetit. Vielleicht war auch Carter hungrig, denn er beschleunigte seine Schritte und ging so schnell, dass ich in meinen schweren, nassen Messgewändern nicht mitkam. Als wir das Dorf erreichten, lag ich rund dreißig Schritte zurück.
Carter eilte zu seinem Haus, einen Steinwurf von der Kirche entfernt. Er wollte bestimmt seiner Frau das Hemd zeigen, damit sie es waschen und er es behalten konnte – als trauriges Andenken an eine große Liebe, die ihm genommen worden war, fortgetragen wie ein Zweig im Schnabel einer Krähe.
»Carter!« Ich wollte zumindest anbieten, das Hemd zu weihen, auch wenn es eine kühne Idee war, ein Stück altes Leinen zu weihen. »Herry! Herry Carter!« Aber Carter antwortete nicht. Er hielt sich das Hemd über den Kopf und wedelte damit herum, als ob er Zuschauer hätte.
Dann geh hin und leide, dachte ich – aber nicht auf herzlose Art. Menschen klammern sich an ihr Recht zu leiden, und manchmal ist es besser, wenn man sie eine Weile lässt. Ich würde Newman in der Messe erwähnen und dafür sorgen, dass der Baum aus dem Fluss entfernt würde. Natürlich nicht an diesem Tag; heute würden die Stunden im Flug vergehen. Ich brauchte eine halbe Stunde Schlaf. Versuche, nicht davon zu träumen, wie der Leichnam flussabwärts gerissen wird, versuche, nicht unglücklich über die Grausamkeit des Todes zu sein. Denke nur an das rosafarbene Licht in den Rohrkolben an der Stelle, wo das Hemd lag, und denke daran, wie gut es ist, dass das Hemd dort gefunden wurde, genau dort , in der sanften Heiligkeit der Rohrkolben. Das ist das beste aller denkbaren Zeichen, und selbst wenn dieser Mann eines grausamen und ungeklärten Todes sterben musste, ehe er so plötzlich verschwand, als hätte ihn ein Wal verschluckt, so blieb doch etwas von ihm in jenem Röhricht hängen – gefangen, gehalten, geborgen, gerettet –, wie ein Mann, der in die Arme seines Volkes zurücksinkt.
War das Licht auf den Binsen überhaupt rosafarben? Vielleicht nicht, aber in meinem Herzen eben doch, und so würde es immer bleiben. Dort, in meinen Gedanken, auf dem Weg nach Hause, war auch die kluge und sanfte Stimme meiner Schwester: Die Sprache des Menschen verstummt vor den Wundern des Herrn . Warum ich das hörte, weiß ich nicht, außer dass ich müde, traurig, zornig und getröstet zugleich war. Als ich die Kirchentür öffnete, weinte ich um Thomas Newman und war überrascht, wie lange es dauerte, ehe die Tränen versiegten.
Ein Priester ist zugleich auch Richter und Sheriff, ob er will oder nicht.«
»Das ist richtig«, sagte ich, ohne überrascht zu sein, denn ich hatte mich daran gewöhnt, dass der Dekan vor mir in der Kirche war und dort müßig auf mich wartete. Diesmal lehnte er an einem Pfeiler neben dem Eingang zur Sakristei und ließ den Ersatzrosenkranz, der dort immer an einem Nagel neben der Tür hängt, durch seine Kinderhände gleiten.
»Wie ich höre, ist die Leiche von Newman wieder aufgetaucht. Oder – war aufgetaucht«, sagte er, »ehe sie wieder verschwand.«
»Das hat sich aber schnell herumgesprochen.«
Mein Abschied von Carter lag erst zehn Minuten zurück. Ich hatte die Kirche betreten und war in die Sakristei gegangen, um etwas Trockenes zum Anziehen zu finden. Ich hatte meine Tränen mit der Stola getrocknet, die dort an einem Haken hängt, bis die weiße Seide große graue Flecken hatte. Als ich herauskam, war der Dekan schon da; er hatte ein untrügliches Gespür für alles Scheußliche. Da stand ich also vor ihm. In den Armen hielt ich einen schweren Wäschestapel, das frische Messhemd lag gefaltet auf der frischen Soutane, und beide warteten nur darauf, dass ich sie nach Hause mitnahm und anzog. Am traurigen Zustand meiner Schuhe konnte ich nichts ändern.
»Ich sah Sie und Carter von irgendwoher zurückkehren«, sagte er, »und ich war, nun ja, neugierig. Also fragte ich Carter, wo Sie gewesen sind.«
»Offenbar sind Sie der bessere Richter und Sheriff.«
Er sah mich an. Klein und penibel wie eine Feldmaus, die aufgeregt hin und her flitzt, von Korn und Gras gestriegelt. Deren winziges Herz in einer kleinen, mutlosen Brust pocht. Ich hingegen war groß und unsicher, meine Augen tränenrot. Die Robe schlammverschmiert und obendrein auf das Schändlichste mit Gänseschmalz befleckt.
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