Ich musste also gar keine Fragen stellen, die ich nicht stellen wollte, denn das Hemd zeigte unmissverständlich, wer der Ertrunkene war. Wir wussten beide, wem es gehörte; selbst in diesem schwachen Licht war klar, dass ein solches Hemd nur einem einzigen Mann im Dorf gehören konnte. Alle anderen trugen beigefarbene, braune oder graue Hemden, aus einer Wolle gemacht, die ihre schäfische Herkunft nie ganz verleugnen konnte. Kein anderer besaß eines aus gutem Leinen, das einst so grün wie der im Wind wogende Flachs gewesen war, aus dem es gewebt wurde. Jetzt war es verblasst, aber es war immer noch ein schönes Holländerhemd. Schon ehe Carter das Hemd gefunden hatte, musste er beim Anblick der Leiche sofort gewusst haben, dass es sich um Newman handelte. Wie viele andere aufgeschwemmte Leichen sollten in diesem Fluss treiben? Wie viele andere Männer waren drei Tage zuvor verschwunden?
Aber es liegt in unserer Natur, das zu verleugnen, was uns ängstigt, und daran ist nichts Boshaftes und Stumpfsinniges. Existiert nicht immer ein heiterer Teil in uns, der hofft, dass das, was wir wissen, nicht wahr ist? Carter versuchte das Hemd zu einem ordentlichen, pietätvollen Geviert zu falten – wenn sein Tod auch unordentlich war, hatte Newman doch ein ordentliches Leben geführt. Das Hemd war zu nass, um die Form zu behalten, und das Bündel wurde unter Carters Händen lose und unförmig. Murmelnd befahl er seinen linkischen Fingern, das Hemd erneut zu falten, und wieder löste es sich. Dann stopfte er es in den Bund seiner Hose, lief an der Böschung entlang flussabwärts, stieß dabei heulend Newmans Namen aus und platschte durch das aufspritzende Wasser, das sich im ersten Sonnenlicht rosa färbte.
Ach, dass ich den Messwein und das Öl in den Fluss schütten musste! Schlimm genug, dass der Mann keine letzte Beichte hatte ablegen können, aber welche Hoffnung bestand für ihn, wenn ich ihm nicht den kleinsten Tropfen Wein einflößen konnte? Carter hatte recht, es hätte vielleicht ausgereicht, seinen Mund, seine Lippen damit zu benetzen. Mit dem Öl ein Kreuz auf seine Stirn zu malen. Und jetzt lief Carter, wie von Dämonen besessen, am Ufer auf und ab, der Wind wehte unablässig, unsere Beinkleider waren durchnässt und der Tag hatte eine verzweifelte Stimmung angenommen.
Kurz darauf kam Carter wutschnaubend zurück und ging in die Hocke.
»Er ist fort«, sagte er wieder, »der Leichnam ist fort.«
»Er wird jetzt schon auf halbem Weg zum Meer sein«, entgegnete ich – auch wenn wir beide wussten, dass das unmöglich war, lief es aufs Gleiche hinaus. Nach fünf Biegungen und zwei weit geschwungenen Schleifen hinter dem Dorf verbreitert und beschleunigt sich der dann in gerader Linie verlaufende Fluss. Nach mehreren Regentagen floss er so schnell wie ein bergab rumpelnder Karren und scherte sich wenig um das, was ihm in den Weg kam. Carter nickte und sackte in sich zusammen.
Im Grunde noch ein Junge, und ein guter obendrein. Dieser Morgen hatte ihn stark mitgenommen. Newman war ihm ein Freund und ein Ersatzvater gewesen, und in den drei Tagen, seit er ertrunken war, hatte Carter sich wider alle Vernunft mit dem Gedanken getröstet, dass sein väterlicher Freund vielleicht noch lebte. Immerhin hatte man noch keine Leiche gefunden. Wenn eine Leiche verschwindet, dann verschwindet auch der Tod, schien Carter gedacht zu haben, und mich hatte seine Zuversicht berührt, obwohl sie aus schiefem Gebälk gezimmert war.
Der Fluss war durchtrieben und launisch – er hatte sich auf einen Toten gestürzt, sodass wir uns nicht in Würde von ihm verabschieden konnten. Schon zum zweiten Mal war ich an sein Ufer gerannt, um Newmans Leiche zu suchen, und schon zum zweiten Mal war es mir nicht gelungen. Ich finde, wenn die Natur zweimal das gleiche Unterfangen vereitelt, sollte man sich fragen, ob noch etwas anderes als bloßes Missgeschick dahintersteckt – aber das sagte ich meinem Freund nicht. »Du musst jetzt stark sein, Herry«, sagte ich ihm stattdessen, und die Zuneigung lenkte meine Hand zu seinem Kopf. So standen wir eine Weile da, stemmten uns mit dem Rücken gegen den Wind, und trotz des Schlamms und der Nässe fuhr der Wind unter mein Messhemd und bauschte es vor mir auf. Die Rohrkolben bogen sich summend im Wind. Trotz meiner Verzweiflung gefiel mir das.
Wir gingen über die Felder zurück. Jetzt bauschte sich meine Robe wie ein Brautkleid hinter mir, während die Soutane darunter gegen mein Schienbein klatschte – ich bitte um Verzeihung, dass ich so viel über meine Unterschenkel spreche, aber das würde wohl jeder, dessen Gewand schwer wie zwei volle Wassereimer ist und sich wie etwas Lebendiges verhält. Ich schämte mich dafür, dass ich durch ein Fieber im Vormonat schwach und kurzatmig und zittrig auf den Beinen war. Ich wusste, wie mein Haar in diesem Wind aussah – ein Wust aus dunklen wilden Locken rund um meine Tonsur. Ich war es, der jetzt wie ein Besessener aussah, aber das war Carter natürlich egal. Genau wie ich stemmte er sich mit voller Wucht gegen den Wind, der sich uns entgegenwarf.
Sein Gesicht wirkte versteinert und er verweigerte jede Unterhaltung. Er sah mich nicht einmal an. Es war heller geworden, und als wir langsamer gingen, sah ich den Schnitt an seinem rechten Ohr, den er sich einige Tage zuvor zugezogen hatte: Er war bei der Reparatur des Kirchenvordachs ausgerutscht und das Ohr hatte sich an einer Schieferschindel verfangen. Die Schnittwunde war tief und halbfingerlang, und ihre Röte und Tiefe gefielen mir so wenig wie der grünliche Ausfluss und die kastaniengroße Schwellung.
Wir kehrten dort auf den Pfad zurück, wo er sich nach links zur Brücke und nach rechts zum Dorf gabelte. Wir bogen rechts ab. Ein Paar Hände schob mich nach vorn, fort von der halb fertigen Brücke, wo Newman, wie wir glaubten, ertrunken war, und als ich in diese Richtung sah, ähnelten die Wolken dicken alten Grobianen, während sie vor uns nur vereinzelt am hohen Himmel standen und sich bereits lichteten.
Dann die Sonne: ein Gesang aus Bronze, der sich ungesehen hinter Oak Hill erhob, dem langen, bewaldeten Bergkamm, der bei uns »der faule Hund« genannt wird (manchmal auch nur »der Hund«, wenn wir faul sind). Der Kamm verläuft entlang der nordöstlichen Grenze von Oakham, sodass die aufgehende Sonne vom Dorf aus niemals sichtbar ist. Aber sie taucht alle Bäume auf dem Kamm in ihr Licht. So war es auch jetzt: ein rötlicher, anfangs schwacher Schein, der dann weit ausgreift, kühl und rosig. Ich muss dann immer denken, dass gleich auf der anderen Seite das Meer liegt. Weiter weg vom Fluss blies der Wind mit weniger Ingrimm, und wir gingen schweigend nebeneinanderher. Carter griff von Zeit zu Zeit hinter sich, um sich zu vergewissern, dass das Hemd noch in seinem Hosenbund steckte. Ich hätte ihn gern getröstet, aber wie sollte ich das ohne Gebete und Bibelgleichnisse tun? Sie waren alles, was ich hatte. Es war offenkundig, dass Carter der Sinn nicht danach stand. Die Trauer hatte ihn zornig und ungeduldig gemacht.
»Dieser Schnitt an deinem Ohr«, sagte ich, »der sieht nicht so aus, als ob er heilen würde.«
»Er heilt«, sagte er.
»Ich finde, er ist schlimmer geworden.«
»Er ist besser als gestern.«
»Das finde ich nicht.« Er stürmte weiter voran, mit wenig Geduld und langen Schritten. Ich sagte: »Ich finde, der sieht gar nicht gut aus.«
»Dann sehen Sie woandershin.«
Und dort, an der Wegbiegung, bei den mit vormals leuchtenden Stofffetzen geschmückten Birken, kniete er nieder. Im hochgewachsenen Gras lag ein toter Hund. Carter drehte sich zu mir um, dann wieder zurück zu dem Hund. »War der auf dem Hinweg auch schon hier?«
»Gesehen habe ich ihn nicht«, sagte ich, »aber er war bestimmt da. Wir sind ja schnell gelaufen, da konnten wir ihn nicht bemerken.«
Es war die Zeit des Sonnenaufgangs, und ich musste Morgengebete sprechen und Beichten abnehmen und hatte keine Zeit, mich mit einem Hund aufzuhalten. Aber Carter legte eine Hand auf den Brustkorb des Hundes. »Kalt wie Lehm«, murmelte er. Trotzdem hatte das schwarze Fell des Tieres einen so gesunden Schimmer, als ob er jederzeit aufspringen und fortlaufen könnte, und genau das hätten wir auch erwartet, wenn ihm nicht die Zunge zum Hals herausgehangen und der Körper leblos dagelegen hätte. Wenn man einen toten Hund sieht – oder überhaupt einen Leichnam –, dann kann man meistens davon ausgehen, dass er verhungert ist oder erschlagen wurde oder von einem galoppierenden Pferd überrannt oder von Alter oder Mutlosigkeit niedergestreckt. Dieser Hund sah zwar dünn, aber nicht verhungert aus, auch nicht erschlagen, verletzt oder alt. Eigentlich sah er aus, als ob er recht guter Dinge wäre. Er lag einfach da, als wäre er vom Himmel gefallen.
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