Gillian Butler / Freda McManus
Eine Einführung
Aus dem Englischen übersetzt von Berta Lenzer und Valerie Gföhler
Reclam
Titel der englischen Originalausgabe:
Gillian Butler / Freda McManus:
Psychology. A Very Short Introduction.
2003, 2019, 2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
© Gillian Butler and Freda McManus 2014
Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2022
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961966-8
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014217-2
www.reclam.de
[7]1 Was ist Psychologie? Wie studiert man sie?
1890 definierte William James, der amerikanische Philosoph und Arzt und einer der Begründer der modernen Psychologie, die Psychologie als »die Wissenschaft vom Seelenleben«, und diese Definition ist selbst heute noch ein guter Ausgangspunkt für unser Verständnis. Wir alle haben ein Seelenleben und daher eine ungefähre Vorstellung davon, was dies bedeutet. Es kann sowohl bei Ratten oder Affen als auch bei Menschen erforscht werden. Jedoch ist das nur ein Ausgangspunkt. – Neue Möglichkeiten, das Gehirn zu erforschen und seine Strukturen und Funktionsweisen zu verstehen, liefern uns faszinierende Informationen über die Faktoren, die unser geistiges Leben bestimmen. Die Verbesserung der Technologien bedeutet, dass Hirnaktivitäten nun objektiv beobachtet und gemessen werden können. Dennoch gibt es vieles, was wir über die Beziehungen zwischen subjektiver Erfahrung und dem Gehirn nicht wissen, und Psychologen stellen nach wie vor Hypothesen oder sachkundige Vermutungen darüber an, wie die zwei Arten des Wissens – das subjektive und das objektive – miteinander verknüpft sind.
Abb. 1: William James (1842–1910)
Wie die meisten Psychologen interessierte sich William James besonders für die Psyche des Menschen, von der er annahm, dass sie aus bestimmten Grundelementen besteht: Gedanken und Gefühle, eine physische Welt, die in Zeit und Raum existiert, und eine bestimmte Art und Weise, etwas über diese Dinge zu wissen. Für jeden von uns entspringt dieses Wissen aus unseren Wechselbeziehun[8]gen mit den physischen und sozialen Welten, in denen wir leben, und aus Gedanken und Gefühlen, die mit diesen Erfahrungen verbunden sind. Aus diesem Grund fällt es uns leicht, mit unserer eigenen Erfahrung als Prüfstein Urteile in psychologischen Angelegenheiten zu fällen. Schon wenn wir eine Meinung zu komplexen psychologischen Phänomenen wie der Möglichkeit von Gehirnwäsche etwa äußern, verhalten wir uns wie Amateurpsychologen. Wir tun dies auch dann, wenn wir Meinungen darüber äußern, warum andere Menschen sich so oder so verhalten – zum Beispiel beleidigt reagieren, traurig sind oder plötzlich ihre Arbeitsstelle aufgeben. Probleme ergeben sich jedoch erst, wenn zwei Menschen solche Dinge unterschiedlich interpretieren. Die offizielle Psychologie versucht, Methoden zur Verfügung zu stellen, die die Entscheidung möglich machen, welche der Erklärungen wohl die richtige ist, oder die die Umstände festlegen, unter denen jede einzelne von ihnen zutrifft. Die Arbeit der Psychologen hilft uns, zwischen subjektiven Insider-Informationen und den objektiven Fakten zu unterscheiden. Wir können zwischen unserer vorgefassten Meinung und dem differenzieren, was wissenschaftlich gesehen »wahr« ist.
Die Psychologie, wie sie von William James definiert wurde, hat mit dem Denken und Fühlen zu tun. Bis vor kurzem war es nicht möglich, das lebendige menschliche Gehirn direkt zu untersuchen. Deshalb studierten Psychologen unser Verhalten und nutzten ihre Beobachtungen, um aus diesen Hypothesen darüber abzuleiten, was im Inneren passiert. Inzwischen ist unser Wissen über die Funktionsweisen des Gehirns gewachsen und bildet ein echtes wissenschaftliches Fundament, um einige Aspekte unseres [10]geistigen Lebens zu begreifen. So spannend das auch sein mag, gibt es dennoch nach wie vor vieles zu erforschen, bevor wir behaupten können, Variationen des Erlebens und Beschreibens unserer Hoffnungen, Ängste und Wünsche oder bei unserem Verhalten während so unterschiedlicher Erfahrungen wie dem Gebären eines Kindes oder dem Besuch eines Fußballspiels zu verstehen.
Bei der Psychologie geht es auch um die Art und Weise, in der Organismen – gewöhnlich Menschen – ihre geistig-seelischen Fähigkeiten einsetzen, um in ihrer Umwelt zurechtzukommen. Die Methoden haben sich im Laufe der Zeit geändert, ebenso wie sich auch die soziale und physische Umwelt geändert hat. Die Evolutionstheorie geht davon aus, dass Organismen, die sich nicht an die Veränderungen ihrer Umwelt anpassen, aussterben (daher kommen Wendungen wie »Der Angepasste überlebt« oder »Überleben des Stärkeren«). Wir wurden und werden immer noch durch Anpassungsprozesse geformt. Das heißt, es gibt Gründe für die Art und Weise, wie unsere Gehirne und unser Bewusstsein funktionieren. Zum Beispiel kann der Grund dafür, warum wir sich bewegende Gegenstände besser ausmachen als ruhende Gegenstände, darin liegen, dass diese Fähigkeit unseren Vorfahren half, Raubtieren oder Feinden zu entgehen. Es ist sowohl für Psychologen als auch für andere Wissenschaftler wichtig, sich dieser Gründe bewusst zu sein.
Eine mit dem Studium der Psychologie einhergehende Schwierigkeit besteht darin, dass wissenschaftliche Fakten objektiv und nachprüfbar sein sollten, die Vorgänge im Hirn sich jedoch nicht in der Weise beobachten lassen wie die in einem Motor. Nur durch die Entwicklung zahlreicher spezieller Techniken sind Wissenschaftler in der Lage, diese [11]eingehend zu studieren, von denen einige in diesem Buch beschrieben werden. Im Alltagsleben lassen sie sich nur indirekt wahrnehmen. Aus den Beobachtungen müssen Rückschlüsse gezogen werden. Die Bemühungen der Psychologen gleichen dabei in vielem denen beim Lösen eines Kreuzworträtsels. Man muss direkt Greifbares, Auffälliges einschätzen und interpretieren und die Lücken mit Hilfe dessen füllen, was man schon weiß. Außerdem muss dies Auffällige sich auf sorgfältige Beobachtungen und präzise Messungen stützen, mit wissenschaftlicher Genauigkeit analysiert und in logischer und vernünftiger Beweisführung interpretiert werden, die einer öffentlichen Überprüfung unterzogen werden kann. Nur ein Teil von dem, was wir in der Psychologie verstehen wollen – wie wir wahrnehmen, lernen, erinnern, denken, Probleme lösen, fühlen, uns entwickeln, uns voneinander unterscheiden und miteinander in Beziehung treten –, kann direkt erfasst werden. All diese Aktivitäten sind mehrfach determiniert , d. h., sie werden nicht durch einen, sondern durch mehrere Faktoren bestimmt. Man denke nur an all die Dinge, die eine Reaktion auf eine bestimmte Situation (etwa die, sich in einer fremden Stadt zu verfahren) beeinflussen könnte. Um herauszufinden, welche Faktoren relevant sind, müssen etliche andere verwirrende Faktoren irgendwie ausgeschlossen werden.
Komplexe Interaktionen sind in der Psychologie eher die Regel als die Ausnahme, ihr Verständnis hängt von der Entwicklung spezieller Techniken und Theorien ab. Die Psychologie hat dieselben Ziele wie viele andere Wissenschaften auch. Sie will die Vorgänge, die sie untersucht, beschreiben, verstehen und voraussagen. Sobald diese Ziele erreicht sind, kann die Psychologie uns helfen, das Wie unseres Er[12]lebens besser zu verstehen. Dann wäre sie auch von praktischem Nutzen. Psychologische Forschungsergebnisse haben zum Beispiel in so unterschiedlichen Bereichen Einsatz gefunden wie in der Entwicklung effektiverer Methoden, Kindern das Lesen beizubringen, beim Entwerfen von Schalttafeln für Maschinen, die durch ihren speziellen Aufbau das Risiko von Unfällen senken sollen, und bei der Linderung des Leids von Menschen in seelischer Not.
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