Da trat Wisi aus dem Stall. Er erkannte gleich unsere prekäre Situation. Trittsicher stieg der Bauernbub zu uns hinab, und gemeinsam brachten wir den Bruder den Hang hinauf.
Von oben war das Gezänk von Sophie zu hören, da ihr Mann keine Anstalten machte, uns zu Hilfe zu eilen. Gusti schwieg beharrlich und rührte sich nicht. Gebannt schaute er den Hügel hinunter und behielt die Situation im Auge, damit er im Notfall hätte Alarm schlagen können, wie er uns später gestand. Er hatte nämlich befürchtet, dass der ganze Hang ins Rutschen komme und uns unter dem Schnee begraben würde.
Die Jacke des Bruders war voll von Schnee, der inzwischen gefroren war. Seine Stiefel konnte Sophie erst ausziehen, nachdem sie warmes Wasser hineingeschüttet hatte. Der Bruder wurde mit einer Wärmeflasche ins Bett geschickt. Ich blieb bei ihm. Ich fühlte mich schuldig, da ich auf ihn zu wenig aufgepasst hatte.
Kürzlich las ich in der Zeitung einen Nachruf über den «Tannliwisi». Ich bemerkte sogleich, dass es sich um den Wisi von damals handelte. Er war der älteste Sohn einer armen kinderreichen Familie und musste gleich nach dem Schulabschluss arbeiten gehen, um die Familie ernähren zu helfen. So kam er als vierzehnjähriger Junge auf die Egg. Er blieb sein Leben lang Knecht. Wisi heiratete nie. Später wurde er wegen seines Hobbys, der Aufzucht von Christbäumen, als «Tannliwisi» bekannt. Wie bin ich ihm dankbar, dass er uns damals gerettet hat.
Anfang Dezember wurden mein Bruder und ich von der Alp geholt. Ich drängte darauf, wieder in die Schule zu gehen. Als ich am ersten Schultag nochmals einen starken Hustenanfall hatte, wollte mich die Lehrerin sogleich nach Hause schicken. Ich hatte in der Schule einiges verpasst. Im Schlusszeugnis stand, dass ich im zweiten Schuljahr neunundsechzig Halbtage gefehlt hatte.
Ich war immer gut im Auswendiglernen und Aufsagen von Gedichten. Darum versprach mir unsere Lehrerin bereits in der ersten Klasse eine grosse Rolle, wenn sie mit uns in der zweiten Klasse ein Krippenspiel aufführen würde. Als ich nun wieder zurück in die Schule kam, waren alle Rollen bereits vergeben. Ich musste die Hefte nachführen und seitenweise Texte abschreiben, während die andern probten. Bei der Aufführung war ich die Einzige, die keine Aufgabe hatte. Die Lehrerin hatte ihr Versprechen nicht gehalten und mich einfach vergessen.
Von uns Schwestern umsorgt
Mit dem Bruder unterwegs
Unsere Aufgabe als Kindermädchen unseres Bruders wurde ja bereits in den Gratulationsschreiben zu seiner Geburt bestimmt. Nun kam noch das kleine Schwesterchen dazu. Da die Mutter mit der grossen Familie sehr beschäftigt war, so war es die Aufgabe der älteren Mädchen, in der Freizeit zu den beiden jüngsten Geschwistern zu schauen. Wir durften nur irgendwo hingehen, wenn wir die beiden Geschwister mitnahmen, sei es in die Badeanstalt, zum Schlitten- oder Skifahren oder – etwas ganz Besonderes für damals – einen Filmnachmittag besuchen, Hauptsache, es schaute jemand zu den Kleinen. So habe ich es in Erinnerung.
Vielleicht war es auch umgekehrt, und wir erstritten uns unsere Teilnahme an bestimmten Freizeitaktivitäten damit, dass wir anerboten, unsere kleinen Geschwister mitzunehmen. Ich erinnere mich an einen vorweihnachtlichen Filmnachmittag des Kaufmännischen Vereins. In der Pause gab es warme Schokolade in einem Fläschchen mit Trinkhalm, so wie damals die «Pausenmilch», die im Winter in der Schule bestellt werden konnte. Wir durften in der Schule nie solche Milch bestellen, da diese zu viel Geld kostete und wir zu Hause genug Milch bekamen, wie die Mutter sagte. Wir konnten aber manchmal davon profitieren, dass ein Kind aus der Klasse krank war und uns der Lehrer die überzählige Milch zusteckte. Für uns war diese warme Schokolade deshalb ein besonderer Genuss.
Jetzt mühten wir uns jedoch die ganze Pause damit ab, unserem Bruder beizubringen, wie man mit einem Strohhalm trinkt, d. h. wie man durch den Trinkhalm einsaugt, ohne alles auf dem Boden zu verschütten.
Wie oft schämten wir uns und versuchten heimlich, das durch unseren Bruder entstandene Malheur zu vertuschen! Bei allen Aktivitäten mussten wir zudem auf der Hut sein, dass der Bruder nicht einen seiner Wutanfälle kriegte.
Da waren noch die Missionsfilmnachmittage. An diesen Nachmittagen wurden Filme von den Missionen in Afrika, Indien und auf Formosa, dem heutigen Taiwan, gezeigt. Diese waren oft nicht sehr zimperlich und nach heutigem Ermessen nicht für Kinder geeignet. Ich weiss noch genau, wie mich die Darstellung erschütterte, als während einer indischen Hochzeitszeremonie der Bräutigam von einer Schlange gebissen wurde und starb und die junge Witwe bei lebendigem Leibe mit dem Leichnam mitverbrannt wurde. Die Szene, wie der afrikanische Vater dem Sohn mit dem Hammer nachrannte, als er erfuhr, dass dieser in die Katechetenschule ging, löste bei unserem Bruder einen aggressiven Anfall aus, und es war schwierig, ihn nach Hause zu bringen.
Das Baden im See war nicht ohne. Aber vermutlich hatten wir so lange gequengelt, dass wir die kleinen Geschwister mit zum Baden nehmen durften. Wir hätten ja sonst bei diesem heissen Sommerwetter zu Hause bleiben müssen. So gingen meine um drei Jahre ältere Schwester und ich mit dem Bruder und der jüngeren Schwester in das Seebad. Ich bin mir nicht sicher, ob wir beide wirklich schwimmen konnten, sicher aber waren wir keine guten Schwimmerinnen. Meine jüngste Schwester sagt mir heute, wie ich ihr das Leben gerettet habe, als sie jemand ins tiefe Bassin schubste und ihr der Schwimmring wegrutschte. Alle hätten gelacht, wie sie im Wasser zappelte, bis ich die Situation begriff und sie herauszog.
Bei unserer grossen Familie gab es immer durchgelaufene Schuhsohlen, die zum Flicken gebracht werden mussten. Der Besuch in der Werkstatt des Schuhmachers ganz in der Nähe war für uns Kinder ein besonderes Erlebnis. Beim Eintreten in das ebenerdige Lokal mussten sich die Augen zuerst an die Dunkelheit gewöhnen. Der Schuhmacher, ein älterer bärtiger Mann, sass auf einem kleinen Stühlchen auf einem etwas erhöhten Podest vorne am einzigen Fenster, durch welches ein wenig Tageslicht in den Raum gelangte. Über seinem Arbeitstisch brannte immer eine lose Glühbirne. Es roch nach Leim und Leder und überall am Boden lagen kleine Leder- und Gummireste herum. Wenn der Schuhmacher gerade an einer kniffeligen Arbeit war, die er nicht unterbrechen konnte, so vergnügten wir uns in der Werkstatt. Wir sammelten Leder- und Gummireste ein, die wir dann «heimlich» in unsere Taschen steckten. Der Schuhmacher liess uns gewähren. Er sprach kaum ein Wort mit uns. Es schien mir aber, dass er uns Kinder nicht ungern um sich hatte. Wenn er mit seiner Arbeit fertig war, so stemmte er sich mühsam von seinem kleinen Hocker hoch, holte mit schlurfenden Schritten unsere Schuhe von dem Gestell und erklärte uns dann, dass es leider nicht mehr möglich war, nur ein Schuheisen einzuschlagen, sondern dass der Absatz oder die ganze Sohle ersetzt werden musste. Ich habe den Eindruck, dass er von uns dafür einen sehr moderaten Preis verlangte. Besonders freundlich zeigte er sich immer unserem Bruder gegenüber. Später erfuhr ich, dass der Schuhmacher gerade über der Werkstatt seine Wohnung hatte und dort sein inzwischen erwachsener schwerstbehinderter Sohn tagein und tagaus in seinem Gitterbett dahinvegetierte.
Wieder einmal war ich mit meinem Bruder unterwegs, als mich eine Frau ansprach und sich erkundigte, was mit ihm denn los war. Ich erzählte freimütig von seiner schweren Krankheit und den Schwierigkeiten rund um ihn und mit ihm. «Es wäre besser, er wäre gestorben», war ihr Kommentar. Ich war entsetzt. Es war doch mein Bruder. Warum sollte er nicht mehr leben? Und doch, hatte das damals nicht auch schon die Grosse Tante angedeutet …?
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