1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 Tanner nickte.
Am liebsten unterhielt er sich über das Uhrmacherwesen. Viele Leute hielten ihn für einen großen Gelehrten, dabei hatte er kaum eine Schulbildung. Er sagte immer: Es waren die Uhren, die mich alles gelehrt haben. Er war sicher einer der besten Uhrmacher weit und breit.
Jean D’Arcy lächelte.
Uhren waren für ihn Persönlichkeiten. Wie soll ich sagen? Ja, er behandelte Uhren, als ob sie lebendige Wesen wären. Er behandelte sie mit Ehrfurcht und Liebe. Brachte man ihm eine Uhr, die wirklich rettungslos defekt war, wurden seine Gesichtszüge ganz weich: Das Herz schlägt nicht mehr. Das Gehirn ist beschädigt, sagte er zum Beispiel, oder: Wie soll sie denn gehen, die arme, wenn beide Füße gebrochen sind.
Unterdessen hatten sie das flache Land durchquert. Die Anhöhen des sanften Hügels, der den See säumte, waren zum Greifen nahe. Tanner entschied sich für die Route am See entlang.
Tanner blickte kurz auf D’Arcys Gesicht. Er schien tief in Gedanken versunken. Er fragte sich einmal mehr, ob die Traurigkeit in den Augen D’Arcys vom Gefängnisaufenthalt kam oder ob es andere Gründe gab? Hatte er keine Frau, die auf ihn wartete? Was hatte er vor? Warum ist er ausgerechnet in dem kleinen Dorf am See ausgestiegen?
Unvermittelt schaute D’Arcy auf.
Darf ich Sie etwas fragen, Herr Tanner? Ja, sicher. Fragen Sie.
Ich meine, äh … etwas, äh … Persönliches, verstehen Sie?
Ja, fragen Sie halt. Wir sehen ja dann, ob ich in der Lage bin zu antworten.
Gut.
Glauben Sie an Gott?
Tanner lächelte und lehnte sich zurück.
Nein, ich glaube nicht an einen Gott.
D’Arcy fuhr sich nervös durch die Haare.
Wenn Sie nicht an, äh … Gott glauben: An wen wenden Sie sich denn, wenn Sie, äh … allein sind und oder ähm … verzweifelt?
Lieber D’Arcy, seien Sie mir nicht böse, aber ich glaube, das ließe sich bei einem kleinen Kaffee besser besprechen. Meinen Sie nicht auch?
D’Arcy nickte.
Sie haben recht.
Im nächsten Weindorf hielten sie bei einem Restaurant mit einer kleinen Seeterrasse an. Sie setzten sich in die leere Gaststube, und Tanner bestellte zwei Kaffee.
Als der Kaffee vor ihnen stand, räusperte sich der junge Mann umständlich.
Wenn Sie also nicht an Gott glauben, dann glauben Sie auch nicht, dass er seinen, äh … Sohn, äh … auf die Erde geschickt hat, um uns zu erlösen.
Das vermuten Sie ganz richtig, D’Arcy. Das glaube ich auch nicht. Abgesehen davon sehe ich weit und breit keine Erlösung. Sie etwa?
Und was ist mit den Zehn Geboten?
Was soll damit sein? Meines Wissens haben wir unsere ganze Ethik den Griechen zu verdanken. Das sind Grundbedingungen für ein menschenwürdiges Zusammenleben. Ganz zuoberst steht: Die Würde jedes einzelnen Menschen ist unantastbar. Dazu braucht es meiner Meinung nach keinen Gott.
Tanner trank seinen Kaffee.
An wen wenden Sie sich denn, wenn Sie verzweifelt sind, D’Arcy?
Er zeigte lächelnd nach oben.
Ich bete. Und dann bin ich noch einer lieben Gemeinschaft verbunden, die nicht weit von hier ihr Zentrum hat.
Er zeigte vage in eine Richtung.
Eine religiöse Gemeinschaft?
Ja, ja. So was Ähnliches.
D’Arcy wiegte den Kopf. Offenbar wollte er nicht weiter darüber sprechen. Er rührte unentwegt in seinem Kaffee.
Wissen Sie, warum ich in dieses Dorf gekommen bin?
Nein. Wieso?
Mein alter Meister, äh … also mein Uhrmachermeister, Monsieur Adda, liegt hier begraben. Gott hab ihn selig. Er ist leider verstorben, während ich in, äh … in Spanien war. Ich konnte also nicht an seine Beerdigung.
Ach. War er denn von hier?
Nein, nein. Er ist in Algerien geboren. Aber seine Frau ist hier aufgewachsen, und somit liegen beide hier begraben.
Tanner stutzte.
Sagen Sie mal, D’Arcy, warum hätte Bodmer Sie eigentlich gestern so früh wecken sollen?
D’Arcy errötete und blickte auf seine Fingerspitzen.
Ja, wissen Sie, mein Meister liebte die frühen Morgenstunden. Und so wollte ich ihm äh … die äh … Ehre erweisen und ganz, ganz früh am Morgen zu seinem Grab gehen und sagen: Meister, hier bin ich endlich – und ähm … Sie sehen, ich bin früh aufgestanden.
Tanner lachte.
Aha, ich verstehe.
Wissen Sie, ganz früh am Morgen, wenn jeweils alles noch geschlafen hatte, liebte es mein Meister, seinen Uhren zu lauschen. Und ich, als sein Schüler, musste es ihm gleichtun. Da saßen wir dann beide und lauschten. Bei Armbanduhren hatten wir Stethoskope, so wie die Ärzte sie verwenden. Bei großen Uhren lauschten wir mit dem Ohr am Gehäuse. Auf der einen Seite mein Meister, auf der anderen ich. Zuerst habe ich wochenlang, ja monatelang nichts anderes gehört als tic-tac-tic-tac. Er sagte immer, man müsse so zuhören, dass man alles andere vergessen, sich ganz in die Uhr hinein versetzen könne. Man müsse quasi zur Uhr selber werden, dann könne man herausfinden, was dem Mechanismus fehlte, dann würde man die Seele der Uhr verstehen.
D’Arcy sprach jetzt ohne Stocken, seine Augen leuchteten.
Wie gesagt, zuerst hören Sie nur das Ticken einer Uhr, aber dann – plötzlich öffnet sich ein neues akustisches Universum. Plötzlich können Sie die Geräusche so zerlegen, dass Sie die Reibung jedes einzelnen Zahnrädchens hören, jedes Schleifgeräusch eines Lagers orten, das sich nicht ganz im Gleichgewicht befindet. Bei mir dauerte es allerdings über drei Jahre, bis ich alles hörte.
Drei Jahre lang? Sind Sie da zwischendurch nicht verzweifelt?
Doch, natürlich. Mein Meister verbot mir zudem, die Uhren zu öffnen, bevor ich hören konnte, was mit ihr los war. Ich habe natürlich gelernt, Uhren zu bauen. Aber die wertvollen Uhren, die mein Meister zur Revision oder zur Reparatur erhalten hatte, durfte ich erst öffnen, wenn ich ihm vorher genau beschreiben konnte, was drinnen los war.
Das ist ja interessant.
Sie schwiegen beide.
Konnten Sie im Gefängnis wenigstens etwas lernen oder von Ihren Fertigkeiten Gebrauch machen?
Ja, als der Direktor merkte, dass ich etwas von Uhren verstehe, belieferte er mich dann und wann mit Uhren, die ich reparieren musste –, und er strich das Geld ein.
Er lachte.
Die Werkzeuge musste ich natürlich immer wieder vollständig abgeben, denn damit hätte man auch allerhand anderes herstellen können.
Ja, ich verstehe.
Tanner überlegte, was er alles damit hätte herstellen können.
Hat man Ihnen, als man Sie gefasst hatte, eigentlich keinen Handel vorgeschlagen?
D’Arcy schaute ihn erschrocken an.
Handel?
Strafmilderung gegen Informationen. Zum Beispiel, woher Sie die Drogen hatten oder für wen Sie die geschmuggelt hatten?
Aber … äh … ich habe Ihnen doch … äh … man hat sie mir ja heimlich in die Tasche gesteckt!
Ja, das schon, aber Sie haben doch gesagt, dass Sie wüssten, wer Ihnen das eingebrockt hat.
D’Arcy wurde noch blasser und wandte sich schnell ab.
Ja, aber das ist etwas anderes. Das sind schließlich keine … äh … ja, wie gesagt, das ist etwas anderes.
Er räusperte sich.
Herr Tanner, seien Sie mir nicht böse, aber könnten wir langsam umkehren, ich hätte heute Nachmittag noch etwas zu erledigen.
Tanner nickte und verkniff sich die Frage, um was es sich denn handelte. Sonnenklar aber war, dass Jean D’Arcy über das Thema nicht reden wollte. Tanner blieb nichts anderes, als es zu akzeptieren. Er bezahlte den Kaffee. Beim Rausgehen zückte er sein Telefon, blickte nach der Uhrzeit und sah, dass er eine Sprachmitteilung hatte.
Nachtessen bei Bodmer. Habe interessante Informationen. Wenn Sie nicht kommen, bitte melden. Sonst 20.00 Uhr. Wille.
VIER
Wenn er etwas hasste, dann waren es diese verfluchten Schießübungen. Schon zweimal war es ihm dieses Jahr gelungen, sich davor zu drücken, heute hatte er daran glauben müssen. Dass er in seinem Beruf schießen können musste, leuchtete ihm ein. Aber er hasste die Atmosphäre im Schießkeller. Die Art von Kameradschaft erinnerte ihn fatal an die Polizeirekrutenschule, die er längst als ein übles Kapitel in seinem Leben abgehakt hatte.
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