Ich kämpfte weiter, das Schwierigste war wieder einmal das Warum in meinem Leben: warum ging es denn nicht vorwärts. Eine Narkose war vollkommen ausgeschlossen, da ich ja alles selber tun musste.406 Dazu waren die Schmerzen ja sehr leicht zu ertragen. Es verrann wieder eine Stunde, da plötzlich, ohne dass ich selber etwas Besonderes spürte, sagte der Arzt: Jetzt haben wir den Kopf und jetzt auch grad das Popeli. Es lag einfach plötzlich da und soll schon mit der Nase geschnuppert haben, bevor es brüllte. Ich sah zwei rosige Beinlein und zwei Ärmlein zwischen meinen Beinen in der Luft herumfahren und hörte zwei kräftige Kläpse klatschen, dann schrie ein hohes Stimmlein zweimal auf.
Sie fingen an, den Nabelstrang zu unterbinden, als ich unsern Sohn mit den Worten begrüsste: Könnt Ihr ihn nicht ein bisschen weiter wegnehmen? Er strampelte mit seinen Füsschen immer gegen meine wunde Stelle, so dass ich ihn von Herzen wegwünschte. Sie schnitten ihn ab und badeten ihn. Er wurde gewogen: Mami durfte ihn auf die Arme nehmen: Freudentränen rannen ihr über die Wangen. Sie wollte ihn mir bringen, ich schüttelte nur den Kopf, denn die wunde Stelle brannte mich entsetzlich, auch war die Nachgeburt noch bei mir. Nun kamen sie wieder zu mir. Dr. Jeklin machte ein paar Press- und Drückbewegungen auf meinem Bauch und plötzlich ging ein ungeheurer, warmer Blutkuchen ab, und sofort war mir «vögeliwohl». Ich hatte aber noch etwas vor mir: Der grosse Bub hatte mir drei Dammrisse gerissen, sie mussten noch vernäht werden, ich gab aber keinen Laut von mir. Und nun begann ein allgemeines Lob über meine Tapferkeit während der ganzen Nacht. Als ob sie denn wüssten, wie wenig oder wie sehr es wehgetan. Wenn ich kein einziges Mal geschrien, so war dies sicher nur, weil ich eben nicht musste. Als der Dr. sagte: «Es ist doch nicht, dass es ein Bub ist?», antwortete ich: «Ja, aber das nächste muss dann ein Mädchen sein!» Ich dachte also schon an das nächste!
In São Paulo wartete Gian schon seit Tagen auf eine Nachricht. Am 24. Januar frühmorgens war es soweit.407
CABOGRAMMA
M. 1 LANDQUART 12 3.30 24 ZIR
CAPREZ
RUA 7 ABRIL 68 SPAULO
SOHN SAMSTAG 3 UHR BEIDE WOHL
GRETI
Auf dem Weg zum Polytechnikum ging er beim Telegrafenamt vorbei.
GROSSE FREUDE
WUENSCHE GUTE GENESUNG ERWARTE
LETTERTELE JETZTIGES BEFINDEN
FREUNDLICH WORT GIANIN
Im Büro behielt er die Neuigkeit für sich.408 Sie schien ihm zu kostbar, um sie mit jemandem zu teilen. Als er abends nach Hause kam, wartete die erbetene Antwort.
NORMALER VORGANG BEGINN NEUNZEHN ENDE DREI UHR
NEUN PFUND BEIDE MUNTER409 FREUDE
GRETI
Immer wieder schaute sich Gian die beiden kleinen Fotos an, die Greti ihm vor einigen Wochen geschickt hatte von sich und dem leeren Korb.410 Liebes, wie hast Du es überstanden, und «er», wie sieht denn «er» aus?, erkundigte er sich. Es ist schon so unrecht, dass ich hier wie ein Murmeltier schlafe und mich so wohl wie nur möglich fühle, währenddessen Du Dich in Schmerzen quälst. Wirst Du diese Nacht wohl schlafen können? Du musst mir dann jeden Abend erzählen, was Du alles erlebt und gefühlt hast, seitdem Du von mir fort bist, sonst verliere ich den Zusammenhang zwischen uns beiden und «ihm», und «es» soll mir doch nicht fremd vorkommen.411
Während Gian diese Zeilen schrieb, brach fast zehntausend Kilometer412 weit weg in Igis der Morgen an. Greti erwachte nach der ersten kurzen Nacht als Mutter. Auf dem Tisch stand ein Strauss roter Nelken, den ihre Freundin Verena mitgebracht hatte.413 Greti fühlte sich sehr müde, aber gleichzeitig munter.414 Neben ihr lag das Kind im Zainli und schlief.415 Komisches Gefühl, dass «es» nicht mehr bei uns ist und «selbständig» und so gross in seinem Korb.416 Sie nahm den Brief zur Hand, den sie drei Tage zuvor angefangen hatte, als sie noch verzweifelt am Warten war, und fügte mit zittriger Schrift ein paar Zeilen hinzu.
Sonntag, 25. Januar 1931
Brüderlein, hast Du mir einen «Gwaltgüggel» mitgegeben! Er ist sehr gross: neun Pfund. Durchschnitt eines Neugeborenen: 6,2 Pfund. Ich hatte nicht gewusst, dass so ein eintägiges Wesen so brüllen kann. Er hat die letzte, seine erste ganze, Nacht gebrüllt von zehn bis vier Uhr ohne Unterlass und von da an ein bisschen ergebener und mit Unterbruch. Brüderlein, wir werden beide fest zusammenstehen müssen, um seinen Starrkopf anheben zu mögen. Von der Geburt schreibe ich Dir morgen. Heute noch zu müde.417
Zwei Wochen später hielt Gian den Brief mit dem ausführlichen Geburtsbericht in Händen. Als er ihn las, war er erleichtert und stolz zugleich. Du gutes tapferes Greti, Liebste, weisst Du denn, welche Freude ich an Deinem Brief habe!418 Ich kauerte vor jedem Satz, las ihn langsam und gespannt und fand mich bald laut lachend, bald misstrauisch abwartend und ernst. Aber Du hast so glänzend geschildert, dass ich es miterlebte, als ob ich auch bei Dir gewesen wäre, dazu wusste ich ja auch, dass es nicht sehr schlimm kommen sollte, was ich, wenn ich bei Dir selbst gewesen, nicht hätte wissen können. Und wie das Kind419 in Nanis Arme gelegt wurde, da merkte ich, dass auch ich feuchte Augen hatte. Dass Du es von Dir weghaben wolltest, begreife ich gut, es freut mich «usinnig», wie Du Dich verhalten hast. Deine Sachlichkeit ist ganz glänzend.420
Noch immer konnte Greti kaum glauben, dass sie dieses Kind empfangen, ausgetragen und geboren hatte. In Gedanken nannte sie die Zeugung das Wunder vom 14. April.421 Dass sie den Zeitpunkt der Empfängnis genau geplant hatte, daran wollte sie sich mittlerweile nicht mehr erinnern. Es ist zu mir gekommen aus Eigenwillen, da wir meinten, sein Dasein noch nicht verantworten zu können. Da «es» nun aber wider unseren Willen uns geworden war, konnte es nicht anders sein als dass «es» uns geschenkt worden.422 Das Wunder hatte jetzt einen Namen: Gian Andrea Caprez. Gretis Vater bedauerte, dass der Enkel nicht Roffler hiess.423 Sie pflichtete ihm insgeheim bei, trauerte aber nicht um den Stammhalter, sondern um die Anerkennung ihres Beitrags an dem kleinen Wunder. Ganz recht ist es nicht: die Mühen haben wir Frauen, aber unseren Namen dürfen wir dem Erfolg der Schmerzen nicht geben. Aber Name ist Schall und Rauch. Wie der Mensch ist, ist die Hauptsache.424 Für beide Grosselternpaare war Gian Andrea das erste Enkelkind. Sie nannten es liebevoll Hans-Hühnchen und wussten sich nicht zu fassen vor Freude.425
Die Erziehung war für Greti vom ersten Tag an ein Kampf. Gemäss der modernsten Säuglingspflege sollte eine Mutter ihr Kind alle vier Stunden stillen, angefangen um sechs Uhr früh. Um zehn Uhr abends gab sie ihm die letzte Mahlzeit, danach für acht Stunden nichts mehr. Hebamme Anny blieb die ersten drei Wochen nach der Geburt im Pfarrhaus und unterstützte Greti dabei, den Stillrhythmus einzuhalten. Die Grossmütter zeigten sich skeptisch, ein solch strenges Regime war ihnen fremd. Doch Greti wollte das Kind früh ans Durchschlafen gewöhnen.426 Es sei ja zum Besten für alle, rechtfertigte sie sich vor Gian. Wenn die beiden Nanis erzählen, dass sie bei ihren Kindern ein ganzes Jahr jede Nacht fünf bis sechsmal aufgestanden seien, so will ich lieber jetzt noch ein paar Nächte das Geschrei und die Bächlein meiner Milch, dafür aber nachher Ruhe für mich, Dich und es.427
So leicht, wie Greti gehofft hatte, gewöhnte sich Gian Andrea allerdings nicht an die Stilldisziplin. Hans-Hühnchen versucht es noch jede Nacht, unsere Herzen zu erweichen, berichtete sie Gian am vierten Tag nach der Geburt. Aber weder die «Gluggeri» noch die Mutter sind barmherzig. Sie schweigen, wenn sie auch nicht schlafen können. Freilich wenn man bedenkt, dass er von vier bis halb sechs brüllt, schmatzt und mit offenem Mäulchen in der Luft herumfährt, es an seinen Fäustchen und dem Kopfkissen versucht und unterdessen aus der übervollen Brust der Mutter zwei Bächlein rinnen, so ist dies viel geopfert für den Götzen Erziehung.428 Sie fühlte sich ohnmächtig, und in ihr regten sich leise Zweifel, ob der eingeschlagene Weg der richtige sei. Doch dann riss sie sich zusammen. Es muss werden, wir müssen es zum Durchschlafen, zu acht Stunden Ruhe bringen.429
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