«Was für eine Tragödie!», sagt Annetta auch, wenn sie von ihrem Schwager spricht, dem Mann von Giuseppes Schwester Linda. Eine Woche, nachdem Annetta und Giuseppe geheiratet hatten, brach der Schwager auf dem Tennisplatz zusammen. Freunde, die das Spiel verfolgten, meinten zuerst, er mache einen Witz. «He was a joker.» Einer, der gerne den Clown spielt. Aber der Schwager hatte diesmal keinen Witz gemacht; sein Herz hatte aufgehört zu schlagen.
Als Annetta schwanger wurde, freute sich Giuseppes verwitwete Schwester Linda, die selber keine Kinder hatte bekommen können. Immer wieder sagte sie zu Annetta, wie sehr sie sich freue. Ein paar Tage, bevor Annettas Kind zur Welt kam, hatte Linda einen Motorradunfall. Linda hatte den Roller selber gefahren und war sofort tot. Annetta brachte ein Mädchen zur Welt. Sie tauften es Linda.
«Was für Tragödien!», sagt Annetta, wenn sie von diesem Jahr spricht. Aber danach blieb das Unglück aus. Eine gute Ehe, «a very very good man», sei Giuseppe gewesen. Annetta lacht. Und fügt sogleich hinzu: «Eine Beziehung ist immer auch harte Arbeit.» Sie hat sich ganz auf ihre drei Kinder eingelassen, Linda, Stéphanie und Philip. «Ich wollte die Kinder, und ich wollte sie selber aufziehen.» Giuseppe verdiente als Optiker bei der Firma Carl Zeiss genug, um die Familie zu ernähren.
Giuseppe? Es gibt etwas, worüber Giuseppe nie gesprochen hat. Er sprach nie über den Krieg, über die vier oder fünf Jahre als Marinesoldat bei der britischen Navy. Giuseppe erzählte Annetta nur, es habe ihm gefallen: «He loved it.» Und dass er an allen möglichen Orten auf der Welt gewesen sei mit der Navy, in Russland zum Beispiel. Aber sonst erzählte Giuseppe nichts. Annetta hat das oft gehört von anderen Frauen in London, dass ihre Männer, die im Zweiten Weltkrieg an der Front gewesen waren, später nie mehr darüber sprechen wollten. Nur etwas hat Giuseppe dann doch erzählt: Dass das Schiff, auf dem er im Einsatz war, einmal bombardiert wurde. Giuseppe blieb unverletzt. Aber viele seiner Kollegen, die über Monate hinweg mit ihm auf dem gleichen Schiff gewesen waren, starben.
Es gibt diese Briefe, die Giuseppe an seine Eltern geschrieben hat, während er bei der Marine war. Seine Mutter bewahrte sie auf, jetzt sind die Briefe bei Annetta. Sie hat sie alle gelesen, und sie hatte gehofft, etwas mehr über Giuseppes Zeit im Krieg zu erfahren. Aber Giuseppe berichtete auch seinen Eltern nicht, was er erlebte. Vielleicht seien die Briefe zensiert worden, meint Annetta. Oder Giuseppe konnte nicht über das schreiben, was er erlebt hatte. So wie er später nicht darüber sprechen konnte.
Ob sie mit ihren drei Kindern Italienisch gesprochen habe? Nein, sagt Annetta, aber Tessiner Dialekt. So, wie man zu Hause in Dangio sprach. Linda, die älteste Tochter, arbeitete später in der Reisebranche. Sie habe in Siena Italienisch gelernt, Philip hingegen, der Sohn, spreche nicht Italienisch, erzählt Annetta. «Nur Dialekt.»
Als sie nach London kam, konnte Annetta kein Wort Englisch. «Nothing at all.» Eigentlich wollte sie damals eine Schule besuchen, um Englisch zu lernen – Rechtschreibung, Grammatik –, aber irgendwie war es dann doch nie dazu gekommen. Nach der Heirat hatte Annetta mit dem Schwiegervater ihr Haus in Kilburn im Nordwesten von London renoviert. Der Schwiegervater kam aus Campello in der Leventina, und natürlich sprach Annetta in jenen ersten Monaten in Kilburn vor allem Tessiner Dialekt. Dann waren die Kinder gekommen, und das mit der Schule und der Grammatik war vergessen gegangen. «Und jetzt vermeide ich es halt einfach, Englisch zu schreiben. Ich habe Angst davor.» Annetta lacht.
Annetta, selber einmal Au-pair in der Deutschschweiz, hat sich in London um Au-pairs aus dem Tessin gekümmert. «Viele sprachen ja gar kein Englisch und waren froh, wenn sie am Anfang von jemandem unterstützt wurden.» Es sprach sich herum unter den jungen Tessinerinnen, dass man sich an Annetta wenden konnte, wenn der Anfang schwierig war, wegen der Sprache oder dem Arbeitgeber. Manchmal kochte Annetta Tessiner Spezialitäten für die Au-pairs. Auch das sprach sich herum: «Si mangia bene da Annetta.»
Annetta erzählt dann noch von einem Verwandten aus Giuseppes Familie, der vor dem Zweiten Weltkrieg jeweils zum Bahnhof ging, London Victoria, und Ausschau hielt nach jungen Frauen, die verloren um sich schauten auf dem Perron. «Are you coming from Switzerland?», fragte er dann, und wenn sie bejahten, half er ihnen, sich zurechtzufinden, schaute, dass sie dort ankamen, wo sie erwartet wurden.
Wenn Annetta in London Polenta kocht, tut sie das mit Maisgries aus dem Tessin. Sie kocht dann zum Beispiel Coniglio con polenta, Kaninchen mit Mais. Wenn die Grosskinder, die inzwischen alle erwachsen sind, zu Besuch kommen, fragt sie jeweils, was sie essen möchten. Sie sagen dann «Risotto». Oder «Polenta». Sie mögen die Tessiner Spezialitäten. Auch die porcini, die Steinpilze, die es in Annettas Risotto hat, kommen aus dem Tessin, aus den Wäldern des Bleniotals. Eine Verwandte aus Dangio schickt sie nach London.
Im Sommer ging Annetta jedes Jahr mit ihren Kindern nach Dangio. Sie wohnten in dem Haus mit dem grossen Garten, das ihrer Familie gehört. «Sobald wir im Dorf ankamen, waren die Kinder auch schon verschwunden. Sie wollten alles wiedersehen, die Ställe und die Häuser, und mit den andern Kindern spielen.»
«Ich habe ein gutes Leben gehabt», sagt Annetta. Und fügt hinzu: «You make it yourself» – jeder seines eigenen Glückes Schmied. Annetta ist fest verwurzelt im Bleniotal. Es ist kein Widerspruch, wenn sie sagt: «Heimweh habe ich nie gehabt.» Und: «Ich habe das Glück auch in London gefunden.» Dangio ist irgendwie immer dort, wo Annetta ist.
«My children are good children», sagt Annetta von Linda, Stéphanie und Philip. «Sie schauen gut zu mir. Sie sind so taktvoll und hilfsbereit. Sie machen alles für mich.» Giuseppe, sechs Jahre älter als Annetta, starb bereits 1989, wenige Jahre nach seiner Pensionierung.
Stéphanie und ihr Mann nehmen Annetta jedes Jahr nach Dangio mit. 2016 zögerte Annetta ein wenig. Es ist steil im Bleniotal, und sie ist nicht mehr so gut zu Fuss. Sie ging dann trotzdem. «Wenn man einmal nicht mehr geht, geht man plötzlich gar nicht mehr.» Sie fahren dann jeweils mit dem Auto, Annetta auf dem Rücksitz. Sie lagert die Füsse hoch und schaut zum Fenster hinaus und lässt die Landschaft zwischen London und Dangio an sich vorbeiziehen. Die gleiche Strecke, die ihre Vorfahren aus dem mausarmen Bleniotal machten, wenn sie fortgingen aus dem Tal, nordwärts zogen, auf der Suche nach Arbeit – nur in umgekehrter Richtung.
Zwieselberg BE — Chelmsford–Newcastle
Anna-Maria Webb-Eggen am 25. März 2017 in Newcastle.
Grosse Fotografie an der Wand: Anna-Marias Elternhaus in Zwieselberg BE.
Porträt des Vaters.
Auf dem Büchergestell hinter dem Bügeleisen: Holzhobel von Anna-Marias Vater.
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