In dem Restaurant essen auch italienische Arbeiter. Sie kommen aus Bedford, wo in den Fünfzigerjahren viele Italiener in der grossen Ziegelfabrik arbeiten. Einer von ihnen hat jeweils eine leere Zigarettenschachtel aus Metall dabei, Marke Express. Er schüttet Alkohol in die Schachtel und reinigt die Uhren seiner Kollegen. «Er sagte jedes Mal zu uns, wir sollten still sein, sonst wisse er nicht mehr, wie die Rädchen zusammengehörten.» Marias Kollegin hat sich mit einem der Arbeiter angefreundet, und an jenem Sonntagnachmittag geht sie mit ihm ins Kino.
Auch Maria geht ins Kino, alleine, in einen anderen Film. Als sie aus dem Kino kommt, trifft sie den jungen Mann mit der hässlichen «National-Health-Brille» – einer Brille des staatlichen britischen Gesundheitsdienstes National Health Service NHS.
Im Juni 1956 war Maria zusammen mit 35 anderen jungen Schweizerinnen nach England gekommen. Eine Agentur hatte ihnen Stellen vermittelt und die Reise organisiert. Maria war 24 Jahre alt und, abgesehen von kurzen Abstechern «ins Deutsche», noch nie im Ausland gewesen. Frankreich, dann der Ärmelkanal: «Dieses schreckliche alte Schiff, das vergesse ich nie mehr!» Von Dover nach London: «Das war furchtbar, diese Häuser. Nicht einmal angestrichen und ganz verwahrlost.» In London Victoria wartet der Chauffeur am Bahnhof, Maria wird mit dem Rolls Royce abgeholt: «Die Kolleginnen haben nur so geschaut.»
Guntmadingen aus der Vogelperspektive. Auf der grossen Fotografie in Marias Wohnzimmer ist ein kleines Dorf zu sehen. Rings um das Dorf Felder, im Süden Wald. Hinter dem Wald beginnt Deutschland.
Maria hatte als einzige von sieben Geschwistern eine Berufsausbildung gemacht, eine Schneiderinnenlehre in Neuhausen am Rheinfall. Nach der Lehre arbeitete sie ein Jahr in Männedorf, zwei Jahre in Olten und dann in Schaffhausen. «Das war eine ganz tolle Stelle in Schaffhausen. Aber manchmal hatten wir einfach genug vom Nähen.» Wir – drei junge Schneiderinnen, die 1956 im gleichen Atelier arbeiten und alle zusammen beschliessen: «Jetzt gehen wir nach England und lernen Englisch.»
«Können Sie denn bügeln?»
Maria hat Glück mit Familie Green in Hampstead: «Es war ein schönes Jahr.» Manchmal holt Mrs Green das grosse Märchenbuch und setzt sich mit Maria an den Tisch. Maria liest vor, Mrs Green korrigiert die Aussprache und erklärt Begriffe, die Maria nicht versteht. «So lernte ich Englisch.» Zu der Familie gehören drei erwachsene Söhne und eine elfjährige Tochter. «Der älteste Sohn war ein richtiger Gentleman. Er brachte seiner Mutter jeden Freitag Blumen mit, ein Büschelchen Schneeglöckchen oder einen Strauss Osterglocken.» Mr Green ist Zigarettenfabrikant – seine Firma stellt auch Express Zigaretten her. Die Familie ist jüdisch, Mr Green isst kein Schweinefleisch, aber «Mrs Green und ich hatten ab und zu ein Schweinskotelette zum Mittagessen».
Maria wird von Anfang an integriert. «Ich sagte einmal zu Mrs Green, ich könne in der Küche essen. Es müsse nicht sein, dass ich bei ihnen am Tisch esse.» Mrs Green antwortete: «Sie gehören zur Familie, Sie gehören zu uns.» Einmal im Monat hat Maria den ganzen Mittwoch frei – dann bekommt sie das Frühstück ans Bett serviert. Arbeit gibt es nur wenig, Maria muss den Eingang sauber halten, abwaschen und für den Hund sorgen. Im gleichen Haushalt sind noch eine Haushälterin und ein Gärtnerehepaar angestellt, und auch der Chauffeur hilft ab und zu mit. Die Wäsche macht Mrs Green selber. «Sie wusch die Kleider und hängte sie im Garten zum Trocknen auf. Aber dann warf sie einfach alles in den Kasten hinein.» Maria fragt, ob sie die Kleider bügeln dürfe. Mrs Green, erstaunt: «Ja, können Sie denn das?» Von da an bügelt Maria die Wäsche.
Maria geht dann alleine Kaffee trinken an jenem nebligen Novemberabend. Dasselbe tut, wie sich später herausstellen sollte, auch der junge Mann, in einem anderen Lokal. «Als wir beide auf die Strasse hinaustraten, stiessen wir erneut aufeinander.» Wieder spricht er Maria an. Wo sie denn wohne, und ob er sie nach Hause begleiten dürfe. Diesmal sagt Maria Ja. Sie gehen zusammen durch den Park Hampstead Heath bis zum Pub Jack Straw’s Castle: «Dort sind wir hinein. Als er an der Bar stand und die Getränke holte, dachte ich: «Hmm, eigentlich nicht schlecht.»
Maria, Februar 2013: «Ich habe einen guten Mann!»
Dennis Gibbs, 1923 geboren, neun Jahre älter als Maria. Er arbeitet bei der englischen Post Royal Mail im Untergrund. Wenn der Postzug mit den kleinen, offenen Wagen anhält, muss Dennis aufpassen, dass die Pakete und Briefe nicht gestohlen werden. Als Mrs Green von Dennis hört, warnt sie Maria und fragt nach Dennis’ Nationalität. «Ein Engländer? Dann kannst du ihn jederzeit nach Hause bringen.»
Im Juni 1957 ist Marias Jahr in Hampstead zu Ende, sie fährt in die Schweiz zurück. Was Dennis denn machen werde ohne sie, fragt Mrs Green. «Und es stimmte! Er ging ja nirgends mehr hin ohne mich.» Im August besucht er Maria in Guntmadingen, sie verloben sich. Dennis kann nicht bleiben, aber er kommt wieder – im April 1958 feiern sie Hochzeit und gehen dann zusammen zurück nach London.
Im Juni beginnt Maria bei Liberty, dem traditionsreichen Londoner Kaufhaus beim Oxford Circus, als Schneiderin zu arbeiten. Die schottische Kundin, die im Liberty ihren massgeschneiderten Kilt anprobiert, ist erstaunt: «Ich hätte nie gedacht, dass Engländerinnen wissen, wie man einen Kilt macht.» Maria ist die einzige gelernte Schneiderin bei Liberty – sie hat den Kilt zugeschnitten. «Die Falten legen ist ja nicht schwierig. Aber es braucht sieben Meter Stoff für einen Kilt!» Die Engländerinnen, sagt Maria, hätten oft nicht einmal gewusst, wie man ein Schnittmuster macht. «Sie machten ja keine Lehre. Sie begannen einfach zu arbeiten und fertig.» Wenn die Einkäuferin von einer Modenschau aus Paris zurückkommt, muss Maria die Anleitung auf den französischen Schnittmustern übersetzen. «Ich war die einzige, die Französisch konnte.»
Kleider von Liberty sind aus fein gewobenen Stoffen. «Wir nähten alles von Hand, richtig Haute Couture.» Auch Hochzeitskleider von Liberty sind beliebt. Maria näht sie allerdings nicht gern: «Ich fand das langweilig. Immer nur weiss – ewig schneit’s.»
Die Arbeitstage sind kürzer als in der Schweiz. «Um neun begann man zu arbeiten, um zehn gab es Tee und ein Stück Kuchen. Von zwölf bis eins Mittagspause, um vier Uhr Tee mit Toast und Butter und Konfitüre. Um halb fünf war man fertig.» Die Klassentrennung wird auch bei Liberty hochgehalten: «Es gab drei Kantinen. Eine für die Arbeiter, eine für die Büroangestellten und eine für die Oberen.»
In einem grossen Schrank im ersten Stock bewahrt Maria 86 Blusen auf aus 86 verschiedenen Stoffen. Sie hat die Blusen alle selber genäht. Viele sind aus Stoff von Liberty. Kurzarm und Langarm. Geblümt, uni, pastellfarbig, bunt. Oder mit dem berühmten Pfauenfedermuster: «Das war das erste Muster, das Liberty druckte. Der typische Liberty print.» Einige Blusen sind viele Jahre alt, andere hat Maria erst vor ein paar Monaten genäht.
1964 wird Dennis befördert, er muss nun Schicht arbeiten. «Bevor er zusagte, diskutierten wir das miteinander.» Maria kündigt bei Liberty und macht sich selbständig. «Sonst hätten wir uns kaum noch gesehen.» In ihrem Haus in High Barnet, am Ende der U-Bahn-Linie Northern Line, richtet sie sich ein Atelier ein. «Ich machte kein einziges Inserat, aber es sprach sich schnell herum. Ich hätte von Anfang an Tag und Nacht arbeiten können.»
«Der Krieg hat ein Stück seines Lebens genommen»
Zu Marias Erzählung gehören auch Geschichten vom Krieg. Einige hat sie selber erlebt, andere hat Dennis erzählt. Im schweizerisch-deutschen Grenzgebiet prägte die Angst vor einem möglichen Einmarsch deutscher Truppen den Alltag. Maria erzählt von der Grenze, die im Schaffhausischen mitten durch die Küche eines Bauernhauses ging – die eine Hälfte der Küche gehörte zu Deutschland, die andere zur Schweiz. Sie erzählt auch von dem grossen aufgemalten Kreuz auf dem Dach eines Bauernhofs in Guntmadingen, weiss vor rotem Hintergrund. «Das war für die Piloten der ausländischen Kriegsflugzeuge, damit sie wussten, wo sie flogen.» Sie erinnert sich auch, wie man sich mit den Jahren an die Angst gewöhnte – vor den Sirenenalarmen und vor den Bomben, die auf Schweizer Seite abgeworfen werden könnten. «Mutter sagte jeweils, wir sollten in den Keller hinunter, wenn die Sirenen gingen. Aber es verleidete uns, und wir sagten dann nur noch: ‹Nein, danke›.»
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