Meine St.-Lucia-Freundinnen hatten klare Träume ohne dunkle Streifen. Meine Träume jedoch hatten immer etwas mehr Szenerie und hellere oder dunklere Farben. Deshalb verriet ich ihnen nie meine Gedanken. Sie würden sie einfach nicht verstehen. Sie würden denken, ich wolle zuviel oder ich analysiere zuviel. Sie dachten nicht gerne zu genau über ihre Träume nach, die seit Generationen dieselben waren, von der Grossmutter an die Mutter weitergegeben. Ihre Träume waren nur ein bisschen realistischer als die der Vorfahren, weil es jetzt mehr Möglichkeiten gab, sie wahr werden zu lassen.
Koretter war ein Mädchen, das genau wusste, wohin sein Weg führte. Sie teilte allen ihre Träume mit. «Ich möchte meinen Schulschatz heiraten. Wenn er nur mit mir spazieren gehen würde, dann würde ich ihm von meinem Traum erzählen. Ich möchte seine Frau sein und ihm alles geben, was ein Mann sich wünscht, viele Kinder, ein Haus und einen Hof haben und zusammen alt werden.» Ich denke zurück an den Jungen, den sie im Auge hatte. Ja, er war schön – für sie, nicht für mich –, er war gross, aber er sah aus wie einer, dem eine Frau nicht genug war. Und überhaupt mochte ich seine Dreistigkeit nicht. Er hatte keine Manieren ihr gegenüber. Vielleicht wusste er, wie er ihr schmeicheln musste. Einige Frauen mögen es, wenn ein Mann grob ist, und er war grob. Sie war erst elf und lief ihm bereits hinterher. Ich hätte ihm am liebsten gesagt, er solle verschwinden, benahm er sich doch bereits wie ein König. Ja, er war ein kluger Kerl, er würde eine gute Ausbildung haben mit einem guten Verdienst. Aber sie würde mit ihm in die Hölle und in den Himmel geraten und wieder zurück. Und es schien mir, als hätte sie das bereits akzeptiert.
Wie konnte sie so bescheiden sein in ihren Träumen? Vielleicht, weil sie nirgendwohin konnte. Sie war, wo sie hingehörte, eine echte St.-Lucia-Frau. Sie war stolz auf ihr Land, auch wenn sie unter der Armutsgrenze lebte. Sie wusste, dass es ihre Bestimmung war, hier zu bleiben. Ich dagegen sah mich nicht als St.-Lucia-Mädchen, aber ich konnte ihr das nicht gestehen. Ich wollte weg, und sie sollte nicht wissen, warum. «Paula, hör auf zu sinnieren, es wird schon dunkel, meine Eltern werden mich suchen. Ich muss meine kleinen Schwestern waschen und zu Bett bringen.» «Koretter, ich weiss nicht, was ich träume. Ich müsste zu vieles erklären. Ich wünschte, ich wäre du. Wie kannst du dir nur so sicher sein?» «Ich bin sicher, das ist alles. Ich weiss, was ich will. Ich will nicht viel. Ich bin ein einfaches Mädchen.» Und was ist mit mir, fragte ich mich. Ich zuckte die Achseln, als wir den Hügel hinuntergingen. Es war sehr dunkel, nirgends ein Licht. Sie hatte keine Angst vor der Dunkelheit, ich jedoch schon. Warum wohl? Ich ging zu meiner Tante, und sie ging glücklich zu ihren Eltern.
Ich flirtete mit Jungs, träumte beinahe schon wie Koretter, doch es schien nie ganz zu gelingen. Warum war ich so unzufrieden? Was war falsch mit mir? Was wollte ich? Spielte ich, oder sah ich anders aus als meine St.-Lucia-Freundinnen? Stellte ich mich selber zu hoch? Oder war ich einfach ein Mädchen, das etwas wusste, was sie nicht wussten? Ich fühlte mich tiefgründig und etwas Besonderes – als ob ich aus irgendeinem wichtigen Grund auf diese Welt gekommen wäre. Aber wofür? Ich wollte es herausfinden.
Ich habe Koretter seit neunundzwanzig Jahren nicht gesehen. Ob sie noch immer ihren Traum vom Schulschatz träumt? Ich würde gerne eines Tages wissen, was aus ihr geworden ist. Für mich jedenfalls war es das Beste, dass ich nicht wusste, wohin meine Träume mich führten.
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