Als sie draußen waren, beschlossen sie, in ein ruhiges Café zu wechseln und den Kaffee dort zu trinken.
Lena schüttelte sich kurz.
Puh, war das laut, aber das Essen war lecker. Vielen Dank, Michel, für die Einladung. Den Kaffee – und falls es Torten gibt – bezahle ich. Als Einstand sozusagen.
Ihr Appetit schien grenzenlos zu sein. Wider Willen musste Michel lächeln, sagte aber nichts.
Es gab tatsächlich Torten. Michel verzichtete darauf, um wenigstens etwas anders zu machen als Lena. Er begnügte sich mit einem Espresso. Sie fiel unbekümmert über ein großes Kuchenstück her, als hätte sie heute noch nichts gegessen. Natürlich bereute er kurz darauf seine Entscheidung, aber jetzt gab es kein Zurück mehr.
Nachdem sie den letzten Krümel vertilgt hatte, lehnte sie sich über den Tisch.
Wie sehen Sie den Fall, Chef? Haben Sie schon eine Vermutung?
Michel nahm den letzten Schluck seines Espressos.
Sehen Sie, Lena, zu Beginn eines Falls sollte man sich unter allen Umständen vor Thesen hüten und sich auf keine Vermutung versteifen. Sonst sucht man die ganze Zeit nach Bestätigung für seine These und übersieht leicht Hinweise oder Indizien, die in eine andere Richtung deuten. Und nennen Sie mich bitte nicht Chef.
Lena nickte eifrig.
Gut, dann sage ich Michel. Darf ich trotzdem eine, äh … eine Fantasie äußern?
Er verdrehte die Augen, nickte aber seufzend und verkniff sich eine beißende Bemerkung.
Auch wenn wir noch nichts wissen, ist doch die Kleidung, die der Tote anhatte, ein starkes Zeichen. Eigentlich der größtmögliche Gegensatz, den man sich sowohl zu seiner Frau als auch zu seinem Beruf vorstellen könnte.
Lena schaute ihn fragend an.
Michel wiegte den Kopf.
Kann sein, kann nicht sein. Sehen Sie, das ist genau das Problem mit solchen Vermutungen. Ich habe schon Zahnärzte und renommierte Anwälte in Lederanzügen auf gewaltigen Motorrädern gesehen. Das war ihr Wochenendvergnügen. Und? Was sagt uns das jetzt? Dass jemand ein abgedrehtes Hobby oder eine ausgefallene Leidenschaft hat.
Sie nickte.
Ja, ja, oder renommierte Bürger, die in Gummianzügen zu Swinger-Partys gehen. Gut, ich verstehe schon.
Sie nahm die Brille ab und putzte sie mit einer Serviette.
Insofern ist das Hawaiihemd nichts Besonderes. Zumal am See. Vielleicht war er auf eine Yacht eingeladen? Oder er besitzt selber eine?
Sie zückte ihr Smartphone.
Das können wir gleich feststellen, ob ein Boot auf seinen Namen eingetragen ist.
Sie beugte sich konzentriert über ihr Telefon.
Michel staunte, mit welcher Geschwindigkeit sie darauf eintippte. Und wie kam sie damit überhaupt in die entsprechenden amtlichen Listen?
Sie blickte auf.
Nein, unter seinem Namen ist kein Schiff eingetragen.
Sie steckte ihr Smartphone weg.
Das heißt natürlich noch nichts. Er könnte trotzdem auf einem Schiff gewesen sein, oder es ist unter einem Firmennamen eingetragen. Oder er hat es gemietet.
Sie blickte auf.
Was schauen Sie mich so komisch an? Ich habe nichts Illegales getan oder, sagen wir, nichts Schlimmes. Die Listen sind ja nicht geheim.
Michel verzog seinen Mund.
Sind Sie eine Hackerin?
Jetzt verdrehte sie ihre Augen.
Was heißt hier Hackerin? Jeder, der Informatik studiert, weiß, wie man in Systeme reinkommt und so. Sobald man technisch ein System durchschaut, ist das ja auch ein Kinderspiel. Die meisten Sachen sind so banal, also das ist kein Hexenwerk.
Michel lachte.
Gut zu wissen.
Lena lachte auch.
Wissen Sie, die meisten Menschen machen sich ein ganz falsches Bild von einem Hacker. Ein Hacker ist in erster Linie jemand mit einer großen technischen Neugierde. Wie soll ich Ihnen das erklären? Ein bekannter Computeraktivist hat einmal gesagt: Ein Hacker ist jemand, der versucht, einen Weg zu finden, wie man mit einer Kaffeemaschine einen Toast zubereiten kann. Ein Hacker will wissen, wie etwas funktioniert und wo die Grenze des Machbaren liegt. Zufrieden?
Michel hob die Hand.
Nicht ganz. Es gibt ja auch kriminelle Hacker.
Ja, das ist klar. Und genau deswegen braucht es auch leidenschaftliche Hacker, die in der Lage sind, Sicherheitsmängel aufzuzeigen, ohne dass sie die Kenntnisse zu ihren eigenen Vorteilen ausnutzen. Die Firmen, vor allem Banken und Regierungen, können dann ihre Sicherheitsmaßnahmen danach ausrichten, bevor ein krimineller Hacker die Lücke ausnutzt.
Michel bestellte noch einen Espresso.
Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen einige grundlegende Kniffe.
Michel winkte ab.
Dafür sind Sie zuständig. Aber danke.
Okay. Und was machen wir jetzt?
Sie rufen jetzt Frau Beckmann an und bieten ihr an, sie ins Gerichtsmedizinische Institut zu begleiten.
Lena machte ein verdutztes Gesicht.
Geben Sie ihr zu verstehen, dass Sie das ohne mein Wissen machen, weil Sie denken, dass das für sie doch ein sehr schwieriger Gang sein würde und dass sie vielleicht lieber mit Ihnen als mit mir gehen würde. Verstehen Sie? Schmieren Sie ihr ein bisschen Honig aufs Brot, wenn Sie verstehen, was ich meine.
Ist das jetzt auch ein Kniff?
Michel setzte sein unschuldigstes Gesicht auf.
Wie kommen Sie darauf? Jemand muss sie doch begleiten.
Michel betrachtete stirnrunzelnd das auf Hochglanz polierte Namensschild. Es handelte sich um eine der vornehmen Anwaltssozietäten in der Hauptstadt. Anwälte, Notare, Treuhänder, Steuer- und Finanzspezialisten. Einige Professoren, viele Herren oder Damen mit Doktortiteln waren darunter. Michel pfiff durch die Zähne.
Genau die Sorte, die ich liebe.
Den Namen Beckmann fand er allerdings nicht. Er prüfte noch einmal die Adresse in den Unterlagen, die seine Assistentin im Auftrag des Chefs zusammengestellt hatte. Er war am richtigen Ort. Er zuckte mit den Achseln und klingelte. Bevor die Tür sich mit einem leisen Surren öffnete, versuchte er sich vorzustellen, wie Lena mit Frau Beckmann im Gerichtsmedizinischen Institut eintreffen würde.
Was für ein genialer Schachzug!
Er klopfte sich gedanklich auf die Schultern. Es befreite ihn vom unangenehmen Gang zur Identifizierung der Leiche und gleichzeitig von Lenas Anwesenheit, die ihn nervös machte.
Er betrat das Gebäude. Über eine knarrende Treppe ging er in den ersten Stock, wo sich die Anmeldung befand.
Ein Schild an der Tür forderte zum Eintritt auf. In einem kleinen Vorraum saß eine schlanke Frau im weißschwarzen Kostüm – sogar als Modemuffel erkannte er Chanel. Sie hatte wilde rote Haare, die wie die untergehende Sonne leuchteten. Als sie sich umdrehte, hielt er spontan eine Hand hoch.
Mein Gott, ihre Haare blenden mich ja.
Sie lachte.
Na, na, so schlimm wird es doch nicht sein. Was kann ich für Sie tun? Sie kommen ja nicht, um mir Komplimente zu machen.
Sie war nicht mehr ganz so jung, wie sie von hinten wirkte, aber sie war außerordentlich attraktiv und hatte ein bezauberndes Lachen, kurz: Sie war der ideale Empfang, der zumindest den Herren das Herz sofort öffnete.
Nein, nein, ich komme wegen Herrn Beckmann.
Er wählte bewusst diese etwas unkonkrete Formulierung.
Sie runzelte ihre schöne Stirn.
Aber Herr Beckmann ist doch schon seit gut, äh … vier Jahren oder … nicht mehr bei uns. Vielleicht sind es auch mehr. Da müsste ich jetzt nachschauen.
Jetzt war er wirklich überrascht und sah wohl sehr verdutzt drein.
Die Empfangsdame erhob sich.
Tut mir sehr leid, dass Sie extra hergekommen sind.
Soweit zur Genauigkeit der Unterlagen, liebe Lena.
Michel fing sich wieder.
Aha, und wo arbeitet er jetzt?
Das kann ich Ihnen nicht sagen, Herr …
Michel zückte seine Dienstmarke und nannte Name und Abteilung.
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