Dass sich gerade das aktuelle Geschehen immer tiefer in die Stadtgeschichte einschreibt, verdeutlichen schließlich zwei Reportagen aus dem Jahr 2020, die den dramatischen Terroranschlag im jüdischen Viertel der Innenstadt sowie den Ausbruch und Verlauf der Corona-Pandemie behandeln. Beide Ereignisse gehören zweifellos zu den einprägsamsten der jüngeren Zeit. Ihre wirklichen Folgen, innerlich wie äußerlich, werden wir wahrscheinlich erst dann in ihrem vollen Umfang begreifen, wenn sich die Stadt wieder auf stabilem Terrain befindet und sämtliche isolierenden Beschränkungen wegfallen.
Der Titel des Buches, »Auf nach Wien«, ist auch paradigmatisch als Post-Corona-Parole zu verstehen, als Signal für den auch von mir ersehnten Aufbruch, als Freude auf das Wiedersehen mit einer »freien Stadt«, in der man ungestört seiner Neugier frönen und Menschen und Orten begegnen kann.
Die vorliegenden nicht ganz dreißig Essays erschienen von 2017 bis 2021 in den Feuilletonbeilagen der Wiener Tageszeitungen »Die Presse« und »Wiener Zeitung«, vereinzelt auch in der »Zeit« und in diversen Fachpublikationen. Sämtliche Beiträge wurden überarbeitet und aktualisiert.
Für die bewährte und neuen Themen stets aufgeschlossene Zusammenarbeit bedanke ich mich herzlich bei den Zeitungsredakteuren Wolfgang Freitag und Gerald Schmickl; ebenso beim Team des Czernin Verlags, namentlich Hannah Wustinger, Mirjam Riepl und Benedikt Föger, deren Engagement auch diesmal einen wohltuend-professionellen Rückhalt bildete. Freundschaftlicher Dank gilt zudem Wojciech Czaja, Urbanist und Architekturpublizist, der sich trotz vollen Terminkalenders zur Abfassung des Vorworts bereit erklärte. Vielleicht verbindet uns alle eine Einsicht und Haltung gegenüber Wien, die der Feuilletonist Raoul Auernheimer einmal so formulierte: »Es gibt wenige Städte, die mehr Glück erzeugen als sie verbrauchen – und Wien gehört zu diesen ganz wenigen.«
PETER PAYER
Wien und Küb, Sommer 2021
Vor der Hofoper, Foto: Emanuel Wähner, um 1881
Die wiederkehrende Diskussion über die Verbannung der Fiaker aus der Wiener Innenstadt verdeutlicht: Was als typisch wienerisch empfunden wird, scheint nahezu unveränderbar – um nicht zu sagen: heilig. Tief verankert im kollektiven Gedächtnis der Stadt ist daran so gut wie nicht zu rütteln. Doch allzu gerne vergessen wir, dass auch die traditionsreichsten Wienbilder historisch gewachsen sind und eine Entwicklungsgeschichte haben, die sie – mit Bedeutung hoch aufgeladen – erst zu dem machte, was sie heute für uns sind. Ob der Steffl, das Riesenrad oder eben die Fiaker, sie alle fungierten über die Zeit hinweg als wichtige soziokulturelle Projektionsflächen und trugen so das Ihre zur sich akkumulierenden Identität der Stadt bei.
Ihre kritische Hinterfragung, bisweilen auch Erweiterung, ist aus historischer Sicht ebenso erkenntnisreich wie gesellschaftlich notwendig. Hat man, wie ich, regelmäßig mit Texten und Quellen über Wien um 1900 zu tun, stößt man mitunter auf recht kuriose Nachrichten aus der Vergangenheit, die einem das Wesen der Zeit und der Stadt geradezu auf den Punkt zu bringen scheinen. Nicht nur, dass die reichhaltige Publizistik jener Jahre eine Fülle an stilistisch fein geschliffenen Miniaturen hervorbrachte, auch so manche materiellen Zeugnisse vermitteln bis heute ein aufschlussreiches Bild des Alltags jener Jahre. Es folgen drei quintessenzielle Fundstücke, die das zum Klischee geronnene Image der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien auf ihre Weise widerspiegeln.
»Ameisen im Apfelstrudel«
Unter diesem Titel berichtete die konservative »Reichspost« am 21. November 1913 über einen aufsehenerregenden Zwischenfall, der auf gerichtlicher Ebene gar bis zur Staatsanwaltschaft ging. Was war geschehen?
Konditorei Lehmann, 1. Bezirk, Singerstraße 3, 1906
Ein Kunde eines Zuckerbäckermeisters in Wien-Fünfhaus hatte in einem Apfelstrudel Ameisen entdeckt. Friedrich Spangenmacher, so der Name des Betriebsinhabers, wurde unverzüglich wegen Übertretung des Lebensmittelgesetzes angezeigt und vor das örtliche Bezirksgericht zitiert. Die Zeitung berichtete über die Details: »In der Verhandlung hatte der Angeklagte angegeben, daß er alles aufbiete, um seinen Betrieb rein zu halten. Die einvernommenen Angestellten erklärten als Zeugen, daß der Meister mit unnachsichtlicher Strenge auf die von ihm angeordnete Reinlichkeit des Betriebes gesehen habe. Ferner wurde nachgewiesen, daß unmittelbar vor dem verhängnisvollen Verkaufe jenes Apfelstrudels die alljährlich zweimal erfolgte Revision durch einen Ungeziefervertilger gerade stattgefunden hatte. Spangenmacher wurde auf Grund dieses Ergebnisses des Beweisverfahrens freigesprochen.« Zwar legte die Staatsanwaltschaft Berufung gegen dieses Urteil ein, jedoch wurde diese letztlich zurückgezogen. Der Freispruch erlangte Rechtskraft.
Dass es ausgerechnet diese Meldung in den Chronikteil einer Tageszeitung geschafft hatte, ist wohl nicht nur der hygienischen Übertretung geschuldet. Es war die Verunreinigung einer der köstlichsten Leibspeisen der Wiener, die die Empörung vervielfachte, galt doch der Apfelstrudel in besonderem Maße als Inbegriff einer Wiener »Schmauserei«. In der sich im Lauf des 19. Jahrhunderts herausbildenden, multinational und bürgerlich geprägten »Wiener Küche« spielte er eine zentrale Rolle und degradierte die anderen Mehlspeisen beinahe zu Statisten. So war nicht nur der renommierte Feuilletonist Paul Busson der Meinung, dass insbesondere an Sonntagen »der ausgezogene Apfelstrudel den Weihetag verherrlicht«. Zweifellos gehörte er zu den herausragenden »Pointen der Wiener Küche«, wie Habs und Rosner in ihrem vielgerühmten »Appetit-Lexikon« über Mehlspeisen vermerkten.
Und dann das: Ameisen und Apfelstrudel – ein größerer Gegensatz lässt sich wohl in der als »Stadt der Phäaken« apostrophierten Donaumetropole schwer denken. Längst waren die Leidenschaft für das Genießen und eine damit verbundene spezifische »Geschmackslandschaft« zum Markenzeichen Wiens geworden, ein vielschichtiger und spannender Prozess, den der Kulturwissenschaftler Lutz Musner in einer Studie eingehend darlegte. Spätestens seit »Wien um 1900« avancierte der Apfelstrudel neben der Sachertorte und dem Wiener Schnitzel zum fixen Bestandteil jener kulinarischen Trinität, die das Eigen- und Fremdbild der Stadt bis heute bestimmt.
Ein anderer, nicht weniger sinnlicher Aspekt spielte bei der großzügig angelegten Ringstraße eine Rolle: die visuelle Gestaltung und Verschönerung des Stadtbildes. Ab den 1850er-Jahren wurde an der Riesenbaustelle Ringstraße gearbeitet, die nach der Jahrhundertwende keineswegs vollendet war. Allerdings konnte man bereits eine große Zahl an »Sehenswürdigkeiten« bestaunen, wie Raoul Auernheimer, bekannter Feuilletonist der »Neuen Freien Presse«, feststellte. Aufmerksam registrierte er die Veränderungen der einstigen Kleinstadt, die so rasch »Carriere gemacht hat«. Auf der Suche nach der neuen, nunmehr deutlich großstädtischeren Physiognomie erkannte er in Wien, im Unterschied zu Berlin oder Paris, eine gesteigerte Vorliebe für das Schauen. Auf der Straße blicke man sich hier merkbar öfter um, man lächle und habe eine Vorliebe, so Auernheimer, für das »Mascherl«. Letzteres war für ihn, wie er im April 1907 schrieb, gleichsam das Signet der Stadt, Inbegriff des Hangs zum Schönen und zum Verschönern, egal ob bei der Toilette der Frauen oder den besonders ins Auge springenden Blumenkörben an den Lichtmasten: »Wien ist, außer Barcelona, hab’ ich mir sagen lassen, die einzige Stadt, in der die Beleuchtungsmasten mit Blumenkörben geschmückt sind. Bei Nacht wird es mit Licht beleuchtet, bei Tag mit Blumen. Und diese bunten, runden Körbe sind Gärten, winzige in die Luft gehängte Gärten, die sich hundertfach wiederholen, wenn man die Ringstraße hinunterblickt. Diese Körbe sind die Mascherln der Straße.«
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